So trieb sie eine tiefe, uneigennützige Sorge immer wieder in den Vorhof des Schwalbenhafens, und so oft der Obmann das Hafengelände betrat oder verließ, stand abseits seines Weges ein kleines, blondes Mädchen und suchte mit besorgten Blicken seinen Körper nach etwaigen Verfallserscheinungen ab.
Lästig bei dieser so wichtigen Kontrollarbeit waren einzig die Wachen, die es einfach nicht einsehen wollten, dass Teri unbedingt stundenlang hier herumlungern mußte.
Schließlich hatte Teri hoch oben in der Klippe, die den Schwalbenhafen von der Stadt trennte, eine ideale Beobachtungsplattform gefunden: Ein Spalt im Felsen, gerade breit genug, ihren schmalen Körper aufzunehmen, wurde nun zu ihrem Stammplatz. Dort saß sie dann in luftiger Höhe und schaute auf den Vorhof des Hafens hinab.
Die Wachen hatten nicht viel gegen Teris Kletterpartien. Trotzdem wurde es von Mal zu Mal schwieriger, ihnen zu entwischen. Jedes Mal, wenn einer der Aufseher Teri erblickte, machten sich alle einen Spaß daraus, Jagd auf das Mädchen zu machen. Bislang war es Teri noch jedes Mal gelungen, den Wachen zu entwischen. - Sie kletterte sehr gut, und die Vorsprünge und Nischen im Fels, in denen ihre Finger und Zehen gerade noch Halt fanden, hätten die Männer niemals getragen.
So sauste sie dann regelmäßig die senkrecht emporragende Felswand empor, um schnell aus der Reichweite der Aufseher zu kommen. Natürlich wußte sie, dass die Wachen sich mit der "Jagd" auf sie nur die Langeweile vertreiben wollten und dass die Männer ihr den Spottnamen "Eichhörnchen" gegeben hatten - sie schrien ihn ja laut genug. - Selbstverständlich wußte sie, dass alles nur ein Spiel war. - Aber erwischen ließ sie sich trotzdem nicht.
Völlig außer Atem kam sie jedes Mal auf ihrem Beobachtungsposten an. Der kaum drei Männerhände breite Riß in der Klippe war in Jahrtausenden von Strömen von Regenwasser innen ganz glattgeschliffen worden. Nicht nur, dass Teri sich seitwärts hineinschieben konnte; in seinem Inneren wurde der Spalt sogar noch etwas breiter, so dass sie sich sogar fast setzen konnte. In dieser Stellung, die sie bequem nannte, verharrte Teri oft stundenlang, acht Mannshöhen über dem Felsboden des kleinen Platzes.
Nicht, dass es hier besonders viel zu sehen gegeben hätte. Außer den Wachen und Scharleuten kamen nur noch die Schiffbauer hier vorbei. Manchmal, aber nur ganz selten, wurde das große Tor geöffnet, um Karren voller Handelsware durchzulassen. Dann wußte Teri, dass gerade wieder eines der Fliegenden Schiffe in den Hafen gekommen war, oder beladen wurde, um auf große Fahrt zu gehen.
Anders als im Schneckenhafen, war hier nicht ein einziges fremdsprachiges Wort zu hören. Nur Leute aus der Stadt durften das Tor zum Schwalbenhafen passieren und auch von denen nur ein sehr kleiner, ausgesuchter Kreis. Wenn Teri Hafenatmosphäre gesucht hätte, wäre sie im anderen Hafen der Stadt besser aufgehoben gewesen.
Teri spürte die Nähe der Schwalbenschiffe.
Sie würde mit den Schiffen fliegen.
Teri nahm kaum etwas von dem Treiben unter ihr wahr.
Teri saß da und schaute sehnsüchtig zu dem großen Tor hinüber.
Teri sah durch das Tor hindurch.
"He, Mädchen, komm herunter!" Laut rief der Kapitän ihren Namen. Aber Teri wollte nicht hinunterklettern. Hoch über dem Deck der `Diamant' hangelte sie sich im Tauwerk der Masten immer weiter empor.
"Teri!" Die Stimme unter ihr nahm einen befehlenden Ton an.
Teri schaute hinab. Athan stand dort. Winzig klein sah er aus, wie er dort unten auf dem Deck die Hand nach ihr ausstreckte. Athan war ihr böse. Warum, das wußte Teri nicht ganz genau. Es hing wahrscheinlich damit zusammen, dass sie Kapitän werden wollte. - Egal! Hier oben konnte er ihr nichts anhaben.
"Komm herunter!"
Teri kletterte noch höher, jetzt hatte sie die Mastspitze erreicht. Triumphierend schaute sie hinab, doch zu ihrem Entsetzen war Athan in der Zwischenzeit um ein Vielfaches gewachsen. Immer näher kam das wutverzerrte Gesicht des Kapitäns, und seine Hand hatte fast schon ihre Knöchel erreicht. "Nein!", stöhnte Teri verzweifelt auf. Gleich würde Athan sie ergreifen. Wild schlug sie um sich, um ihn abzuwehren.
"Pass auf! Halt dich fest!" Das Bild Athans begann zu verblassen. "Sei vorsichtig!"
Teri spürte Felsgestein unter ihren Händen und schlug ihre Augen auf. Erschreckt zuckte sie zurück. Sie war bei ihren verzweifelten Versuchen, Athan abzuwehren, halb aus ihrem sicheren Hochsitz in der Klippe herausgerutscht.
"Teri, komm herunter!"
Irritiert schaute Teri nach unten. Dort stand einer der Verkünder und schaute zu ihr hoch. "Du bist doch Teri, oder?", wollte der Mann von ihr wissen.
Teri nickte.
"Dann komm herunter, der Obmann will dich sprechen. Aber sei vorsichtig!"
Schnell schob Teri ihren Körper vollends aus dem schmalen Spalt und kletterte eilig die Felswand hinab. Der Obmann wollte sie sprechen? Jetzt schon? Was konnte das zu bedeuten haben? "Was will Athan denn von mir?", fragte sie atemlos, als sie auf festem Boden vor dem Verkünder stand.
"Athan?" Der Verkünder schüttelte den Kopf. "Nicht Athan - Tees, der Obmann der Former ist es, zu dem ich dich bringen soll."
Mit ernstem Gesicht ging der Verkünder voraus.
Teri überlegte angestrengt. Was konnte Tees von ihr wollen? Hatte sich vielleicht jemand über sie beschwert? Oder sollte sie vielleicht sogar belohnt werden, für irgend etwas, von dem sie gar nichts wußte?
Im Formerfelsen angekommen, gingen die beiden direkt in die Werkstatt des Obmanns, der sie schon erwartete. Teri fiel sofort die bedrückte Stimmung auf, in der sich alle Anwesenden befanden. Mehrere Kollegen ihres Vaters hatten sich hier versammelt.
Bei Teris Eintreten verstummte das leise Gespräch der Männer und Frauen endgültig. Alle standen schweigend in dem düsteren Raum und blickten zu Boden. Plötzlich aufwallende Angst überkam Teri. Was ging hier vor? Warum waren alle so ernst?
Tees räusperte sich. Mit fahrigen Bewegungen nahm er einen Holzstab von seiner Werkbank und betrachtete ihn kurz mit abwesendem Blick. Dann richtete er das Wort an Teri.
"Ich, ich muß dir leider eine traurige Botschaft übermitteln." Unsicher sah er das Mädchen an. "Du weißt, dass deine Eltern im Auftrag der Zunft unterwegs sind, um seltene Tonerden aus der Provinz Astrad einzukaufen."
Teri nickte stumm. Diese ersten Sätze Tees' waren wie ein Schlag in den Magen für sie gewesen. Es ging um ihre Eltern. Ihren Eltern war etwas zugestoßen. Sie wollte nichts mehr hören, nicht erfahren was geschehen war. Am liebsten wäre sie fortgelaufen, aber das würde ja doch nichts helfen. Mit einem kleinen Rest von Hoffnung sah sie zu Tees auf.
"Wir haben Nachricht aus Astrad erhalten", fuhr Tees fort. "Deine Eltern haben vor fünf Tagen die Grenze bei Darun überschritten, sind aber nicht bei den Tongruben angekommen."
Teri sah das Bild ihrer Eltern vor sich, wie sie sich von ihr verabschiedet hatten. Ihr Vater war schon immer als Vertrauensmann der Zunft zu den Tongruben gegangen, um dort das nötige Material einzukaufen. Auch seine Frau hatte sich im Lauf der Jahre eine hohe Sachkenntnis angeeignet, was die Qualität des Tons anging. So waren die beiden einmal jährlich, jeweils im Frühling, gemeinsam aufgebrochen, um die Einkäufe für die Zunft zu tätigen.
In den Gruben von Astrad ließen sie von den dortigen Meistern Depots anlegen, die dann im Sommer nach und nach von Arbeitern nach Thedra gebracht wurden. Auch in diesem Jahr war Teri für die Dauer der etwa zehntägigen Reise bei ihrer verwitweten Großmutter einquartiert worden.
"Die Schachtmeister der Gruben haben sich mit ihren Leuten auf die Suche gemacht." Tees sprach jetzt ganz leise. "Im Feuchtland haben sie den Zunftkarren und ..."
Teri war es, als sei sie betäubt. Stumm stand sie da und schaute auf den Obmann der Former, der verzweifelt nach Worten suchte.
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