1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 "Und wer den Herrn liebt, den liebt auch der Herr. Der Herr sei mit euch, er segne und behüte euch und mache euch zu seinen ergebenen Dienern. Amen. Und jetzt geht eurer Mutter zur Hand. Nach der Abendmesse weihe ich euch in die Kunst des Lesens ein." Ein Klatschen in die geistlichen Hände zeigte an, die Kinder durften sich davonmachen.
"Warte", Evelina entzog ihre Hand der des Freund. "Er soll uns so nicht sehen."
Blitzartig steckte Falko seine Hände in den Kittel. Er lernte schnell. Die Zeit der Kindheit war ein für alle Mal vorbei. In der Welt der Erwachsenen musste jeder den Schein wahren. Was im Verborgenen geschah, musste im Verborgenen bleiben. Doch sein Herz wollte sich nicht mit diesen trüben Gedanken befassen. Viel zu schön leuchtete die flach stehende Sonne des Spätherbstes in sein Gesicht. Sie konnte den nahenden Winter noch immer besiegen, spendete noch immer Wärme, zeigte an, die Götter leben, Wodan und Saxnot, die Götter dieses Landes, die Götter freier Menschen. Als Evelina die Tür ihrer Hütte öffnete und sich Falko hinter ihr so klein wie möglich zu machen versuchte, lächelte Astrid nur. Sie blickte nicht zornig, eher verstehend.
"Geht und versorgt die Pferde", trug sie ihnen auf. Und sie wusste, dass sie den beiden das größte Geschenk bereitete, welches zu geben sie augenblicklich in der Lage war.
"Puh, das ging ja gerade noch gut", sagte Evelina und wischte sich den Schweiß von der Stirn, welchen nicht nur das Tragen der schweren Heubündel, sondern auch die Erinnerung an das Treffen mit Johannes dorthin trieb. Bisher gab es für die beiden Kinder keine Gelegenheit, sich über das Erlebte auszutauschen. Erst hier im Pferdestall konnten sie frei sprechen.
"Du bist so voller Weisheit", bewunderte Falko das Vorgehen der Schwester. War doch alles so eingetreten, wie sie es vorhergesagt hatte. Johannes hielt die Schrift für echt. Und Falko erkannte zum ersten Mal in seinem noch jungen Leben, dass Macht nicht nur mit Körperkraft und Mut, sondern auch mit geistiger Kraft zu tun hat.
"So traurig ich bin, meine Familie verloren zu haben, von meinem Vater getrennt zu sein, so glücklich bin ich, dein Bruder sein zu dürfen", fügte er voll echter Dankbarkeit hinzu. Er sah nicht mehr die schrecklichen Bilder der Ermordeten. Er sah seine Mutter, seinen Bruder und seine Schwester gemeinsam über grüne Wiesen fliegen, auf dem Rücken ihrer Pferde, welche dem Überfall der Franken ebenso wie die Menschen zum Opfer fielen und doch in der anderen, der glücklichen Welt, weiterlebten. Und Vater kommt zurück. Das stand für den Jungen so fest, wie die große Eiche im Wald, unter deren Wurzeln er sich noch kürzlich versteckte, in deren Schutz er zum zweiten Mal das Mysterium des Zusammenseins von Mann und Frau erfuhr.
"Mein Bruder bist du nur für die anderen. Für sie müssen wir den Schein wahren, zu unserem Schutz. Doch wir beide wissen es besser. Wir sind nicht Geschwister. Wir sind Liebende." Evelina fasste Falkos Hand, zog ihn an sich, zwischen die warmen Leiber der Pferde. Dann presste sie ihre Lippen auf die Seinen, so, wie sie es bei Johannes und ihrer Mutter gesehen hatte. Ein Gefühl der absoluten Vertrautheit, des uneingeschränkten Verstehens und des für immer zusammensein Wollens überfiel die beiden. Es war ein langer, ein intensiver, vom instinktiven Suchen beider Zungen nach der jeweils anderen begleiteter Kuss. Falko kannte Liebe nur aus den Erzählungen am Feuer, zwischen Göttern und Göttinnen, ohne Beschreibung der körperlichen Seite dieses uralten Themas. Doch Evelina träumte schon so lange von wahrer Zuneigung zwischen Mann und Frau, von einer nicht aus materiellen Gründen geschlossenen Ehe, sondern von einer aus Aufrichtigkeit und gegenseitiger Achtung erwachsenden Vereinigung zweier gleichberechtigter Menschen. Und voller Spannung spürte sie Falkos Hände, die in tastendem Verlangen über ihre Oberschenkel glitten.
"Trödelt nicht. Johannes wartet." Astrids von außen hereindringende Worte beendeten das Spiel der Liebenden. Rasch warfen sich Evelina ihr Kleid und Falko seinen Kittel über. Dann rannten sie zum Gebetshaus. Johannes durften sie nicht warten lassen, schon gar nicht, wenn er sie in die Geheimnisse der Wissenschaft einweihen wollte. Die Pfützen spritzen unter ihren nackten Sohlen. Das Regenwasser verstärkte die herbstliche Kälte des grasbewachsenen Bodens. Sie bemerkten es nicht. Zu aufgeheizt waren ihre Körper, zu hoch schwebte ihr Geist.
"Morgen zieht ihr Schuhe an, bevor ihr mich besucht", empfing sie Johannes. "Vergesst nicht, ihr seid Kinder eines Edlen."
"Jawohl, Bruder Johannes", antworteten Falko und Evelina im Chor. Doch damit endete das Vorgeplänkel auch schon. Während Evelina, die bereits in der Erkenntnis Fortgeschrittene, Texte aus der Heiligen Schrift, von Johannes persönlich übersetzt, lesen und abschreiben sollte, widmete sich der Mönch Falko und brachte ihm die ersten Buchstaben bei. Erstaunt stellte er fest, dass der Junge rasch Fortschritte machte.
Nach einer Stunde intensiven Übens entließ Johannes seine Schüler. Ihr Wissensdurst bereitete ihm Freude. Er war sich bewusst, dass die Weitergabe solch wertvoller Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen an Heiden gegen die Regeln seiner Kirche verstieß. Doch er war sich ebenso sicher, aus den beiden aufrechte Kämpfer für den wahren Glauben zu machen. Und er, dem eine Familie zu gründen, streng untersagt blieb, fühlte sich hingezogen zu dem hübschen Knaben und der erblühenden jungen Frau. In ihr erwuchs Astrid eine starke Konkurrenz. Das spürte er deutlich zwischen seinen Schenkeln.
"Gehet mit Gott. Morgen sehen wir uns wieder", verabschiedete er die beiden schweren Herzens.
In den nächsten Tagen wurde der abendliche Unterricht zu einer festen Größe in Falkos Leben. Nie hätte er sich träumen lassen, einmal bei fremden Menschen glücklich zu sein, und das, obwohl er jede Nacht von seiner Familie träumte, von der toten Mutter und dem weit entfernten Vater, dessen wenige, auf Rinde gekritzelte Worte, sein ganzer Stolz waren. Fest im Glauben seines Stammes verwurzelt, las Falko die Zeichen seiner Götter, sah sie in der Gestalt von Bäumen, hörte sie als Donner am Himmel, erkannte sie im Züngeln der Blitze. Besonders nah stand ihm Saxnot, der Kämpfer, der bei den Pferden wohnte, zog es doch den Jungen selbst immer wieder zu diesen edelsten aller Geschöpfe. Und er fand Trost und Zuversicht. Mochte Johannes predigen, was er wollte, der Christengott konnte Falkos Herz nicht aufschließen, konnte sich auch nicht mit dem Wissen einschleichen, welches der Junge so begierig aufsog. Er achtete die Weisheit des Mönchs, soweit es um Lesen und Schreiben ging. Missionieren ließ er sich nicht. Und wenn er doch einmal anfing, über die Wunder nachzudenken, welche dieser Jesus vollbracht hatte, dann erinnerte er sich gleich wieder der Wunder, die Saxnot jeden Tag vollbringt. Nein, seine Götter waren nicht tot. Mochte Johannes noch so viel davon erzählen, wie der Christenkaiser Karl die Irminsul, den Weltenbaum, umgestoßen und den alten Göttern die Macht entrissen hat. Falko kannte diesen einen Baum nicht. Er kannte viele Bäume. Und solange diese standen, zeugten sie von der Kraft seiner Götter. Mochte der neue Gott bleiben, wo er herkam. Unter den sächsischen Stämmen war kein Platz für ihn. In Falkos Ohr klangen der helle Ton aufeinanderschlagender Schwerter, das rasche Klopfen galoppierender Hufe, der Schrei der Sieger. Er sah seinen Vater, wie er an der Seite des großen Widukind die Fremden verjagte. Er sah Wodan und Saxnot, die denen beistanden, welche ihnen Ehre erwiesen. Und immer wieder sah er seine Mutter, so auch in dieser Nacht. Er lächelte im Schlaf. Du bist ein guter Junge, sprach Gefion. Und dann erklangen Enos Worte. Es dauert nicht mehr lange, dann hole ich dich, dann kämpfst du mit mir. Immer weiter riss ihn der Traum fort aus Bodowins Dorf.
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