Carmen Sternetseder-Ghazzali - Rauchundfeuerland

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Wer möchte sich schon mit einem Flüchtlingsjungen anfreunden, der an einem eisigen Wintermorgen barfuß im eigenen Klassenzimmer auftaucht? Und der außerdem rotzfrech ist, Cola aus der Dose trinkt und obendrein behauptet, er käme aus dem Rauchundfeuerland? Mit Arasch möchte keiner so wirklich etwas zu tun haben. Nur Bianca wagt es und verteidigt Arasch immer wieder vor der Klasse. Eine Freundschaft entsteht. Das ist spannend, aber auch schwer. Es gibt Tränen und Intrigen, Streit mit Freundinnen, und immer wieder die Angst, ausgelacht zu werden. Aber als plötzlich im nächtlichen Stadtpark drei seltsame, zottelige Kerle im Gangster-Outfit auftauchen, wird alles anders.

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Carmen Sternetseder-Ghazzali

Rauchundfeuerland

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Inhaltsverzeichnis Titel Carmen SternetsederGhazzali Rauchundfeuerland Dieses - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Carmen Sternetseder-Ghazzali Rauchundfeuerland Dieses ebook wurde erstellt bei

Der verstaubte Globus

Ausgesperrt

Wahre Schätze miefen

Wo liegt Betlehem?

Die Kamikaze-Uhr

Ein stürmischer Ozean

Mücke gegen Elefant oder David gegen Goliath

Ochsenkopf

Galgen-Papperlapapp

Strichmännchen im Sand, verweht

Schwimmen über den Ozean

Wer bezahlt die Uhr?

Geschichte vom treuen Mungo

Brennende Vorhänge

Spreu vom Weizen

Ein Zauberer auf Schlittschuhen

Gontäna

Schwarze Löcher

Tragödie auf dem Teich

Im Himmel

Metall im Körper

Die Sache mit Frau Stahl

Einer unter vielen

Impressum neobooks

Der verstaubte Globus

Alles fängt so an: An einem eisigen Wintervormittag, mitten im Unterricht, kommt Frau Rötelstein, unsere Direktorin, mit einem fremden Jungen in unser Klassenzimmer. Der Junge sieht wirklich merkwürdig aus. Seine rabenschwarzen Haare stehen büschelweise in alle Richtungen und seine lila Strickjacke ist viel zu groß und voller Löcher. Löcher, groß wie Murmeln. Einige aus der Klasse fangen an, zu lachen. „Schau mal auf seine Füße“, flüstert Nina, meine beste Freundin, in mein Ohr. Ich gucke auf seine Füße und kann nicht glauben, was ich sehe. Er trägt bloß schmutzige Flipflops. Sonst nichts. Im Winter. Seine Zehen sind schon ganz blau vor Kälte. Das kann nicht wahr sein. Welche Mutter schickt ihr Kind an einem eisigen Februarmorgen barfuß in die Schule? „Bestimmt sind die Zehen nur blau angemalt“, sage ich.

„Meinst du? Vielleicht macht Frau Rötelstein mal wieder einen Scherz, so wie letzten Sommer“, sagt Nina grinsend. Ich nicke still und denke, ja, es muss mal wieder einer ihrer Scherze sein. Frau Rötelstein ist nämlich die witzigste Direktorin der Welt. Oder welche Direktorin plumpst sonst noch auf dem Sommerfest in den Schulteich? Ihr ist das passiert. Und als sie wieder herauskrabbelte, saß ein Frosch in ihren Haaren. Saß? Nun ja, er hatte sich eher mit seinen grünen Beinchen darin verfangen und zappelte um sein Leben. Frau Rötelstein kreischte und drehte sich im Kreis wie eine Ballerina. Natürlich lachten alle. Unser Hausmeister fischte ihr den Frosch, ebenfalls laut lachend, aus den Haaren. Bis heute weiß keiner, ob Frau Rötelstein versehentlich in den Teich gefallen ist oder bloß einen Scherz gemacht hat. Die meisten glauben, es war ein Scherz. So gesehen, ist dieser Junge vielleicht jetzt auch ein Scherz. Gleich wird er seine richtigen Klamotten und Winterstiefel auspacken, und ...

„Quatsch“, zischt Denise, die hinter uns sitzt und unser Gespräch gehört hat. „Der kommt aus dem Container.“ Wir gucken sie an. Sie nickt ernst und fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Auf ihren Fingernägeln sind angepappte Totenköpfe zu sehen. Keine Ahnung, wo man so etwas bekommt. Aber als sie „Container“ gesagt hat, habe ich sofort gewusst, was sie meint. Nämlich das riesige knallrote Blechding, das neuerdings bei uns im Park steht. Es sieht aus wie eine Tonne, eine Mülltonne mit Fenster, bloß viel größer und knallig rot. Keiner weiß, wie es hierherkam, aber jeder will, dass es wieder verschwindet. Es steht seit ein paar Tagen mitten bei uns im Park. Aber nicht nur das. Sondern auch mitten auf der Fußballwiese, zwischen den beiden Toren. Klar, dass die Jungs aus meiner Schule da sauer wurden. Jaromir, der große Bruder von Denise, schoss vor Wut gleich eine der Scheiben kaputt. Wo sich vorher das Fensterglas befand, hat jetzt jemand Pappe reingeschoben.

„Das ist Arasch Lahuti“, stellt Frau Rötelstein nun den Jungen vor. „Er musste aus seinem Land fliehen und hat schon einiges hinter sich. Heute ist sein erster Tag in einer deutschen Schule. Davor hat er unterwegs viele Monate in einem Lager gelebt. Dort hat er Deutsch gelernt. Er spricht schon gut deutsch. Er ist fleißig“, sagt sie und lächelt den Jungen an. Er lächelt zurück. Zwei Grübchen bilden sich auf seinen Wangen. Kurz sieht er aus wie ein indischer Schauspieler aus einem Bollywood-Film.

„Aber Frau Rötelstein! Wir sind voll. Er soll doch in die 4c“, sagt Frau Stahl aufgeregt.

„Nee“, meint Frau Rötelstein. „Er soll zu Ihnen in die a!“ Und weil Frau Stahl jetzt wirklich zerknirscht aussieht, sagt sie noch: „Sie kriegen das schon hin!“

„Aber es ist so, dass …“, fängt Frau Stahl an und flüstert Frau Rötelstein etwas zu. Die blickt streng und schüttelt den Kopf.

„Er ist also ein Flüchtling“, flüstert Denise währenddessen hinter vorgehaltener Hand, so als ob es sich um etwas Verbotenes handelt, über das man nur im Flüsterton sprechen darf. Felix, vor mir in der ersten Reihe, zerknüllt ein Papierstück zu einem Kügelchen. Felix ist unser Wunderkind. Streber wäre falsch. Streber lernen ganz viel, damit sie gute Noten bekommen. Felix lernt nie. Das behauptet zumindest seine Mutter. Nun schnippt Felix das Papierkügelchen in die Luft. Es segelt schnurstracks auf Arasch zu. Volltreffer! Mitten auf die Stirn. Kichern, Gelächter.

Arasch zuckt zurück. Frau Stahl und Frau Rötelstein kriegen nichts mit. Ihre Köpfe stecken zusammen. Sie tuscheln noch immer miteinander. Felix schnippt noch einmal eines durch die Luft. Volltreffer! Mitten auf die Lippen. Arasch macht mit den Armen eine abwehrende Bewegung. Gelächter, Brüllen. Ein schweres, gemeines Brüllen. Eines wie im Mannschaftssport, das den Gegnern gilt. Es ist ansteckend. Ich brülle mit, obwohl ich mich nicht wohl dabei fühle. Arasch schiebt mit immer schnelleren Kaubewegungen etwas von einer Backenseite auf die andere. Vielleicht seine Zunge? Oder ein Kaugummi? Seine Finger sind jetzt ganz komisch ineinander verhakt.

„Was ist so lustig?“, fragt Frau Rötelstein erstaunt.

„Denise hat gepupst“, ruft Felix und rümpft seine Nase.

Natürlich glaubt Frau Rötelstein diesen Blödsinn nicht. Trotzdem weiß sie nicht, warum wir alle lachen. „Kümmern Sie sich gut um den Jungen!“, mahnt sie unsere Lehrerin und verlässt das Klassenzimmer.

Frau Stahl beißt ein paar Sekunden mit den Zähnen auf ihrer Unterlippe herum, dann holt sie seufzend den Globus vom Schrank und stellt ihn auf das Pult. „Na, dann machen wir das Beste daraus. Zeig uns erst einmal, wo du herkommst“, sagt sie zu Arasch.

„Ich lebe jetzt hier im Park“, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Ja, ich weiß, aber aus welchem Land kommst du?“ Frau Stahl wischt mit dem Zeigefinger über den Globus. Dann guckt sie auf ihren Finger, verzieht das Gesicht und wischt den Finger mit einem Taschentuch ab. Staub. „Also, wie heißt dein Land?“

„Rauchundfeuerland“, sagt Arasch.

„Zeige uns, wo das ist!“, sagt Frau Stahl ein bisschen barsch und tippt energisch auf den Globus.

Arasch zuckt mit den Achseln. „Nirgends“, meint er.

„Nirgends?“ Frau Stahl pustet nun richtig zornig über den Globus. Staub fegt durch die Luft. Komisch, denke ich, dass der Globus so verstaubt ist. Vielleicht, weil wir ihn noch nie benutzt haben. Dann stupst Frau Stahl den Globus an. Quietschend wirbelt er um seine Achse. „Ich will doch nur wissen, woher du kommst. Zeig es uns doch einfach“, sagt sie und hält den Globus an.

Arasch tippt auf einen Punkt, ohne genau hinzusehen. „Aber das ist doch Deutschland“, sagt Frau Stahl empört. Da gongt es. Pause.

Als wir nach der Pause wieder ins Klassenzimmer gehen, steht Arasch noch immer vor dem Globus. Ob er dort die ganze Zeit gestanden hat? Ich finde ihn jetzt viel weniger komisch. Irgendwie habe ich mich schon an sein merkwürdiges Aussehen gewöhnt.

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