Arasch sitzt noch auf seinem Stuhl. Ich packe meine Hefte extra langsam ein. Als Nina weg ist, gehe ich zu ihm.„Du“, sage ich und gucke auf seine Zehen, „es gibt hier in der Schule eine Kiste, die heißt Schlamperkiste und da liegen manchmal Socken drin. Da kannst du dir welche holen, damit deine Füße wärmer werden. Magst du mit mir dorthin gehen?“
„Ja“, flüstert er.
Als er gleich darauf die Kiste samt Inhalt sieht, ist er sprachlos. Da liegen Berge von Socken, Mützen, Fäustlingen, Hausschuhen und Jacken drin. „Winterstiefel!“, ruft er nach einer Weile und strahlt wie einer, der gerade einen Schatz entdeckt hat.
Ich grinse, als er die Stiefel anprobiert. Sie sind türkisfarben. Gore-Tex steht darauf. Sie passen! Er wird ganz rot vor Freude. Dann nimmt er sich noch Fäustlinge und drei Mützen. Eine davon ist echt schön. Grau mit einem Bild von einem Skifahrer darauf.
„Warum drei?“, frage ich. Mir ist das irgendwie nicht geheuer. Das Zeug stinkt und außerdem gehört es jemandem.
„Für meine kleinen Geschwister“, antwortet Arasch.
„Oh! Klar“, sage ich und schlucke.
In dem Augenblick kommen Frau Rötelstein und Tupai, ein Junge aus der 4c, aus dem Lehrerzimmer. Tupai guckt kurz her und verschwindet dann in die andere Richtung. Frau Rötelstein kommt auf uns zu. Ich bekomme heiße Ohren. O je! Das wird Ärger geben. Man darf nichts aus der Schlamperkiste nehmen, was einem nicht gehört. Wer genau das gesagt hat, weiß ich nicht, aber es klingt richtig.
Frau Rötelstein lächelt freundlich, als sie vor uns stehen bleibt. Sie duftet nach Blumenparfüm. „Wunderbar“, sagt sie und klopft Arasch auf die Schulter. „Nimm dir, was du brauchst. Nimm auch was für deine Geschwister mit. Ach, warte! Ich habe was für dich!“ Sie flitzt zurück und holt aus dem Lehrerzimmer zwei große, leere Tüten. „Da, nimm dir aus der Kiste, was dein Herz begehrt. Die Sachen liegen hier schon wochenlang. Musst sie halt erst waschen.“
Arasch guckt erst verlegen, stopft dann aber ganz viel aus der Schlamperkiste in die Tüten.
„Du kannst ihm ja helfen, die Tüten nach Hause zu tragen“, sagt Frau Rötelstein zu mir.
Nach Hause? Zum Container? Mama will mich heute von der Schule abholen. Wenn sie sehen würde, wie ich mit Arasch und zwei Riesentüten im Container verschwinde ... Unmöglich! „Äh“, druckse ich herum. „Heute gehe ich einen anderen Weg.“
„Schade! Soll ich dir helfen, Arasch?“, fragt Frau Rötelstein freundlich.
„Nein, ich bin stark“, sagt Arasch und trommelt sich breit grinsend mit den Fäusten auf die Brust.
„Das sehe ich!“, sagt Frau Rötelstein und lächelt.
„Ich muss dann mal los“, murmele ich.
„Danke, Bianca, dass du ihm die Kiste gezeigt hast. Das war eine tolle Idee von Frau Stahl“, sagt Frau Rötelstein.
„Ja, finde ich auch“, erwidere ich. Halt! Frau Stahl? Was hat die damit zu tun? Ich hatte doch die Idee. Jetzt fällt mir auch ein, dass sie es ist, die immer sagt, wir dürfen nichts aus der Kiste holen, was uns nicht gehört. Egal. Raus zu Mama. Die soll mich bloß nicht gemeinsam mit Arasch sehen. Und schon gar nicht, wie er diese Riesentüten zum Container schleppt.
Mama steht schon vor der Schule und wartet auf mich. Sie trägt eine weiße Fellkappe und ihren weißen Mantel. Sie sieht nicht aus wie eine Zahnärztin, sondern wie eine Schauspielerin. Sie gibt mir einen Kuss, dann nimmt sie mir die Schultasche ab und hängt sie sich selbst über die Schultern. So gehen wir los. Um in die Glasharfenstraße zu gelangen, müssen wir erst durch den Park. Als wir am Container vorbeigehen, sagt sie: „Dieses rote, hässliche Ding passt wirklich nicht hierher.“
„Ja“, pflichte ich ihr bei. „Sie hätten den Menschen richtige Häuser geben sollen.“
„Was?“ Mama bläht ihre Wangen auf und pustet die Luft dann aus. Es knallt richtig! Ich gucke zu ihr und sie guckt kritisch zu mir. Ob ich was Falsches gesagt habe?
Habe ich eigentlich schon erzählt, dass unser Haus uralt ist? Man riecht das, wenn man in den Keller geht. Es riecht nach Mäusen, Schimmelkäse und Moder. Aber im Erdgeschoss, wo die Praxis ist, riecht es nach Pfefferminze und Zitrone.
Den meisten Patienten sieht man es nicht an, dass sie im Mund einen ziemlichen Verhau haben, wie es meine Mutter immer ausdrückt. Frau Luder zum Beispiel, unsere Ach-ich-bin-die-Tollste-auf-der-Welt-Patientin. Wenn sie mit ihren goldenen Pumps in die Praxis stöckelt und dabei ihre blitzweißen Zähne zeigt, kommt man nicht auf die Idee, dass das ein Gebiss ist. Von Papa gemacht.
Auch heute ist Frau Luder da. Mama muss ihr Gebiss und ihre Mundhöhle reinigen. Während sie das tut und ich auf einem Extratisch im Behandlungszimmer Hausaufgaben mache, erzählt Mama von einem Bürgerbegehren. Was ein Bürgerbegehren ist, haben wir kürzlich in der Schule durchgenommen. Wenn man mit etwas nicht einverstanden ist, zum Beispiel, dass ein uralter Baum gefällt wird, geht man herum und sammelt ganz viele Unterschriften von Leuten. Und wenn man die hat, geht man damit zum Bürgermeister. Wenn genug Leute unterschrieben haben, wird der Baum nicht gefällt. Eine tolle Sache, finde ich. Bis ich höre, um was es in dem Bürgerbegehren geht.
„Es geht um den Container und um die Leute, die darin wohnen. Sie sollen wieder weg!“, sagt Mama zu Frau Luder und fügt dann an: „Liebe Frau Luder, Sie müssen da unbedingt unterschreiben.“
„I wo“, nuschelt diese und setzt ihr Gebiss ein. „Wo sollen die denn sonst hin? Man kann die doch nicht immer weiter- und weiterschicken. Außerdem: Endlich ist mal was los bei uns im Viertel.“
„Was los?“ Mama fällt ein Becher auf den Boden. Er kullert durch die Praxis.
„Ja, mir ist das immer zu langweilig hier“, grinst Frau Luder und klappert kräftig mit ihrem Gebiss.
Mama durchquert den Praxisraum und hebt den Becher auf. Ich sehe an den Falten auf ihrer Stirn, dass sie verärgert ist. Ob wegen dem Becher oder wegen Frau Luders Antwort, weiß ich nicht. Aber ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung, warum Mama unbedingt will, dass das rote Ding im Park wieder verschwindet. „Warum soll es weg?“, frage ich, nachdem Frau Luder gegangen ist.
Mama denkt kurz nach, dann sagt sie was wirklich Komisches. Sie sagt, dass die Kindheit so etwas wie eine Schonzeit sei. So ähnlich wie in der Natur, wo Jäger während der Brutzeit keine Tiere erschießen dürfen. Das rote Ding, meint sie, raubt uns Kindern hier die Schonzeit und konfrontiert uns praktisch viel zu früh mit der Schlechtigkeit der Welt.
„Was? Wie?“, frage ich verdattert. Ich kapiere überhaupt nichts mehr. Was hat das rote Ding im Park mit der Schlechtigkeit der Welt zu tun? Es ist doch sehr lieb, dass man es den Flüchtlingen hingestellt hat. Außerdem leben im Container auch viele Kinder. Gilt für die das mit der Schonzeit etwa nicht? Mama weiß darauf keine Antwort.
Am Abend gehen wir zu Luigi. Das ist ein italienisches Restaurant in der Kornblumensiedlung. Dort gehen wir immer hin, wenn Mama keine Zeit zum Kochen hat. Wir sind so vier Mal in der Woche da. Wir sind Stammgäste.
Papa will heute auch kommen. Mama sagt, dass es etwas Wichtiges zu besprechen gibt. Vielleicht wollen sie wieder zusammenziehen? Das wäre so schön! Und klug! „Seit Papa weg ist, versinke ich in Arbeit“, stöhnt Mama immer. Wenn Papa wieder da wäre und in seinem Labor unten im Keller seine Gebisse und Zahnprothesen machen würde, hätte Mama wieder viel mehr Zeit. Sogar jetzt, nachdem wir die Bestellung aufgegeben haben, muss Mama noch eine Patientenakte durchsehen. Gleich morgen früh muss sie jemanden operieren.
„Habt ihr eigentlich schon Mathe wiederbekommen?“, fragt Mama plötzlich, die Nase noch in der Akte.
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