«Wir werden morgen früh gegen zehn Uhr mit der Urne zur alten Eiche gehen.» sagte Jessica auf einmal.
«Ferientag Nummer eins und wir können nicht mal Ausschlafen!» Nachdem Tobias das gesagt hatte leerte er sein Glas Wein in einem Zug und sprach weiter. «Dann sollten wir heute wohl zeitig zu Bett gehen.»
Die Stimmung war nach wie vor angespannt. Wie ein Pflock wartete Lana am Buffet sehnlichst darauf, bis endlich Jemand etwas Interessantes zu berichten begann. Wieder ergriff Tobias das Wort. «Mutter, erzähl uns doch einmal was du so in den letzten Jahren in Europa gemacht hast. Warum haben wir so lange nichts von dir gehört?»
Ruhig legte Jessica die Gabel quer über ihren Teller. Sie schien gelassen auf die Frage eingehen zu wollen. Mit der Vorspeise war sie fertig.
«Ich musste mich für euren Grossvater um wichtige geschäftliche Dinge kümmern.»
Mit einer Geste wies Tobias Lana an ihm Wein nachschenken.
«Da wo du warst gab es wohl kein Telefon?» er wollte es von seiner Mutter etwas genauer wissen. Doch sie hatte nicht vor die Mauer des Schweigens einzureissen. Bedächtig wählte sie ihre nächsten Worte, sie wusste, Tobias hatte dieselbe Angewohnheit wie sein verstorbener Vater. Auch der war meistens auf eine Konfrontation aus, immer dann, wenn er zu viel getrunken hatte. Er versuchte sie aus der Reserve zu locken.
«Du weisst, dass mein Verhältnis zu eurem Grossvater nicht das Beste war.»
«Dafür konnten wir nichts. Du hättest dich trotzdem öfter melden dürfen. Wir hatten keine Ahnung wo du warst und wie es dir ging.» entgegnete ihr Sohn.
Jessica stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und verschränke die Arme über dem Teller.
«Es tut mir leid. Die Situation war verfahren und sehr kompliziert.»
Sie hatte einen wehmütigen Ausdruck im Gesicht. Tobias wartete, da er glaubte seine Mutter würde endlich etwas ausführlicher werden. Ihre nachfolgenden Antworten blieben kühl und oberflächlich.
«Du willst uns tatsächlich nicht mehr erzählen?» Und wieder trank Tobias sein Glas leer. Er wusste genau, seine Trinkerei machte Jessica rasend. Wenn er hartnäckig blieb, könnte er sie vielleicht zum Platzen bringen. Tobias wollte sie knacken. Diese unnahbare Person, die sie Mutter nannten, sollte endlich ein paar Emotionen zeigen.
«Naja, vielleicht hast du dich ja in Madeleine gar nicht so sehr geirrt.» Das sagte er mit einem ironischen Unterton.
Madeleine war für Jessica die Provokation schlecht hin. Chloé legte schweigend ihr noch unbenutztes Besteck auf den Tisch zurück. Sie hatte nicht einen einzigen Bissen gegessen. Tobias schaute in ihr kreidebleiches Gesicht.
«Schwesterherz, du sieht echt nicht gut aus. Was ist denn nur los mit dir?»
Sie liess die Hände in den Schoss fallen ohne auf ihren Bruder einzugehen. Jessica war ihrer Tochter wegen sehr beunruhigt, verkniff sich aber eine bemutternde Frage. Wenn nötig würde sich ihre Tochter von sich aus kundtun. Es sollte nicht schon am ersten Abend Streit ausbrechen. Es würde noch früh genug zum Ärger mit ihren Kindern kommen, dessen war sie sich sicher. Bevor die beklemmende Stille zurückkehrte, sprang die Küchentür auf und Maja trampelte ins Esszimmer. Der nächste Gang war parat. Während die Teller abgeräumt wurden, erhob Tobias sein leeres Glas als wolle er einen Toast aussprechen.
«Ist es vielleicht möglich noch etwas Wein zu bekommen?» fragte er ungehalten.
Seine Schwester musste ihn zurecht weisen. «Ich glaube du hast genug!»
«Oha, du sprichst ja doch mit mir!»
Sie zickten sich mehrere Minuten lang an wie zwei kleine verwöhnte Kinder. Lana behielt die Weinflasche in der Hand und wartete bis das Gezanke endete. Die Teller waren abgeräumt und man brachte das Lammfilet mit Kartoffeln zum Tisch. Es roch unglaublich lecker.
«Schenken Sie mir jetzt noch etwas ein oder wollen sie weiterhin wie angewurzelt dastehen?“
Man sah Lana an, dass sie sich am Verhalten von Tobias störte. Jessica erhob mahnend eine Hand, um sie mit der Flasche zurück zu weisen.
«Genug für heute. Halte bitte etwas Mass!»
«Danke Mutter, ich weiss selber wann ich genug habe.»
«Offensichtlich nicht.»
Er beharrte darauf. «Einschenken!»
«Ja was jetzt?» dachte Lana, verdrehte die Augen und schielte dabei zur Decke. Schliesslich schenkte sie ihm nach. Von Jessica erntete sie einen rügenden Blick. Chloé schaute auf ihren Teller. Den unangetasteten Salat hatte man kommentarlos durch den Hauptgang ersetzt. Sie pickte eine kleine Kartoffel auf die Gabel.
«Irgendwie habe ich heute keinen richtigen Hunger» nuschelte sie.
«Du solltest aber etwas essen. Es ist eine wahre Gaumenfreude.» erklärte Tobias.
Diesmal trank er nur einen gemässigten Schluck und stellte das Glas kontrolliert neben seinen Teller. Hatte er seine Manieren doch nicht ganz verloren?
«Wirklich, Schwesterherz, du bist viel zu dünn geworden!»
Jessica schnitt in das zarte Fleisch. Es schmeckte sogar noch besser als es roch. Beatrice war eine Meisterköchin.
«Möchtest du etwas anderes essen?»
«Nein Mutter!» gab Chloé überaus streng zur Antwort. Sie kaute auf der kleinen Salzkartoffel herum, dann würgte sie den Bissen theatralisch hinunter. Es sah aus, als zwinge man sie mit vorgesetzter Pistole eine Kakerlake zu verzehren.
«Warum ziehst du denn so ein Gesicht?»
Noch ignorierte sie ihren Bruder rigoros. Stattdessen wandte sie sich mit einer seltsamen Miene an Jessica. «Wir haben uns wirklich gefragt wohin du so plötzlich verschwunden bist.»
«Ich musste dafür sorgen, dass euer Erbe nicht den Bach runtergeht.»
Tobias klinkte sich wieder ein. Er plauderte mit vollem Mund. «Hast du gewusst, dass Grossvater unsere MAD-y als alleinige Erbin einsetzten wollte?»
Es wurde mucksmäuschenstill. Er hatte ins Schwarze getroffen.
Jessicas Schutzpanzer bekam einen Riss.
«Möchtest du auf etwas Spezielles anspielen?»
Ihr Sohn verzog höhnisch den Mund. «Sie muss echt eine Granate im Bett gewesen sein, dass sie Grossvater dermassen um den kleinen Finger wickeln konnte.»
«Sei nicht so respektlos!»
Ärgerte sich Jessica, ihre Kiefermuskeln spannten sich an. Die Stimmung war geladen, ein weiterer Funke konnte eine Explosion auslösen. Wie aus dem Nichts warf Chloé eine Behauptung in den Raum.
«Madeleine ist schwanger.»
Aufmerksam beobachtete sie die Reaktion ihrer Mutter. Die verschluckte sich beinahe an einem Stück Fleisch. «Woher weisst du das?»
Vom Buffet aus verfolgte Lana die Diskussion die entfachte. Gleich würde es krachen.
«Ich hörte Grossvater und Madeleine deswegen streiten.»
Tobias beugte sich vor. «Sie war schwanger?»
Jessica hielt es bloss für einen schlechten Scherz. Bestimmt wollten sie ihre Kinder nur verärgern. Aber Chloé blieb hartnäckig bei ihrer Geschichte.
«Es ist die Wahrheit!»
«Das ist schlichtweg unmöglich.»
«Ich habe genau gehört wie sie darüber stritten.»
«Mein Vater hatte vor Jahren eine Vasektomie machen lassen.»
Diese Tatsache verwunderte ihre Tochter zutiefst. In ihrem Kopf begann sie sich etwas zusammenzureimen. Angewidert starrte sie ihren Bruder an. Als er es merkte, fing er ihren Blick ein. «Was ist denn?»
«Wessen Kind trug sie eigentlich in sich?»
Ihm missfiel ihre Anspielung. «Was meinst du damit?»
Sie hob arrogant eine Augenbraue. «Ich denke du weisst genau wovon ich spreche!»
«Nein das tue ich nicht.»
«Du hattest eine Affäre mit ihr.»
«Bist du von Sinnen? Das ist völliger Schwachsinn!»
Tobias sah wie seiner Mutter die Kinnlade runter hing. Der letzte Bissen war ihr beinahe im Hals stecken geblieben
«Hör bloss nicht hin. Das ist Blödsinn was sie da erzählt!»
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