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Damals war das für Joanne nur eine hübsche Geschichte gewesen, die sie vordergründig verstand, an die sie aber nicht wirklich glaubte. An diesem Abend erhielten die Aussagen ihres Vaters jedoch eine neue Bedeutung. Erstaunlicherweise beruhigte Joanne diese streng wissenschaftliche Sichtweise ihres Vaters. Sie versuchte sich in seine physikalische Welt zu versetzen. Im Laufe dieses erfolglosen Versuchs fiel sie in einen tiefen, traumlosen, erschöpfungsähnlichen Schlaf.
Während sie schlief, dachte Cutter genau über jenes Gespräch nach, das ihr eben selbst durch den Kopf gegangen war. Er hatte sich damals überlegt, ob er seiner Tochter auch etwas über Schrödingers Gedankenexperiment mit seiner Katze erzählen sollte, hatte dann jedoch darauf verzichtet, da Joanne ohnehin schon reichlich verwirrt gewesen war. Heute war er froh darüber. Es wäre für Joanne in der momentanen Situation sicher sehr beunruhigend gewesen, von einer Katze zu wissen, die gleichzeitig tot und doch lebendig ist. Zu diesem Zeitpunkt konnte Cutter noch nicht ahnen, dass Joanne in den kommenden Tagen viel schlimmeren Dingen als Schrödingers Katze begegnen würde, und es hätte ihn entsetzt, wenn er gewusst hätte, dass er in wenigen Tagen den Zustand eines ihm lieben Menschen mit jenem von Schrödingers Katze vergleichen würde.
Etwas anderes beunruhigte ihn zutiefst. Und das war nicht Schrödingers Katze. Dieses Paradoxon glaubte er – wie auch die anderen Vertreter der theoretischen Physik – längst überwunden zu haben, auch wenn, wie eigentlich gerade er selbst am besten wissen sollte, einige letzte Zweifel daran bestehen blieben, ob das Rätsel der Katze wirklich abschließend gelöst war. Nein, er machte sich Sorgen über sein eigenes Alter. Nicht dass Cutter besonders eitel gewesen wäre. Noch nie hatte er versucht, den Alterungsprozess mit irgendwelchen künstlichen Mitteln zu verlangsamen oder auch nur seine Auswirkungen zu übertünchen. Doch stand er vor einem Problem, das ungewohnte Dimensionen angenommen hatte. Er fürchtete, dass er sein ganzes Wissen über Bord werfen musste, weil es ihn bei der Lösung des anstehenden Problems nur behinderte, und dass er gerade dazu aufgrund seines Alters nicht mehr in der Lage sein würde, weil seine große Erfahrung ihn daran hinderte, frei zu denken.
Die großen Leistungen der Physik – namentlich auf den Gebieten der Relativität, der Quanten und der Strings, aber auch der Kosmologie – waren von jungen Wissenschaftlern erbracht worden, die unbelastet von Dogmen die alten, bisher gültigen Regeln über Bord geworfen und nach neuen, unkonventionellen Antworten gesucht hatten. Keiner von ihnen – der große Einstein nicht ausgenommen – war Jahrzehnte später in der Lage gewesen, einen weiteren vergleichbar mächtigen Gedankenschritt zu machen.
Cutter selbst war über fünfzig Jahre alt. Sein Hirn war vollgestopft mit Wissen. Vollgestopft mit Theorien, die er für richtig und wahr hielt, mit verworfenen Hypothesen, mit allgemeingültigen Formeln. Da war wenig Platz für einen Neuanfang. Kein Platz, an dem ein völlig neuer Gedanke den lebensnotwendigen Nährboden finden konnte. Er war zu alt. Dieser Umstand sprach zugunsten von Männern wie Prometheus – Cutter wusste noch immer nicht, was er von diesem Mann halten sollte, maß ihm aber eine große Bedeutung bei den aktuellen Ereignissen zu – und könnte für ihn selbst zu einem unüberwindlichen Handicap werden.
Er hatte seinen großen Moment bereits gehabt, hatte dort zu forschen begonnen, wo sich die anderen nicht mehr hingewagt hatten. Er selbst hatte es überlebt, doch Jennifer war dabei umgekommen. Er hatte keine Angst davor, dass ein nächster genialer Gedanke sein eigenes Leben beenden könnte. Was er befürchtete, war, dass er nie wieder einen solchen Gedanken haben könnte. Von einer Sekunde zur nächsten realisierte Cutter, dass genau das in den letzten Jahren sein Problem gewesen war. Er hätte Großartiges vollbringen können, hatte diese Fähigkeit jedoch seiner Liebe zu Jennifer geopfert. »Ja«, dachte er resigniert, »du bist wirklich zu alt.«
Er warf Joanne einen liebevollen Blick zu und sprach halblaut vor sich hin: »Und du bist noch viel zu jung.«
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