Endlich legte jemand eine Hand des Verschütteten frei und schrie nach den anderen Helfern, die, über und über mit Blut und halb verdautem Tintenfisch beschmiert, zu ihm eilten. Die umstehenden Gaffer, die trotz des unerträglichen Gestanks immer zahlreicher wurden, fühlten sich wie in einer dieser Fernsehshows, in der kleine Teams sich durch einen Swimmingpool voller Schmierseife arbeiten müssen, nur war das hier keine Seife. („Jedenfalls noch nicht!“, scherzte einer, der sich mit Walen auszukennen glaubte.) Die Helfer legten den Kopf und den anderen Arm Salvatores frei und zogen an seinen glitschigen Gliedmaßen, zerrten, rutschten ab, zerrten wieder. Diesmal fühlten sich die Zuschauer an TV-Dokumentationen erinnert, in denen wagemutige Tierärzte Kühen, Elefanten oder Giraffen Geburtshilfe leisten, wobei man anfangs nur einige Gliedmaßen des Neugeborenen erkennen kann, in oft absurden Verrenkungen, glitschig so wie hier, bis irgendwann der ganze Körper herausstürzt, begleitet von einem Schwall aus Blut, Fruchtwasser und der Nachgeburt. Endlich befreiten die Helfer den leblosen Körper, zogen ihn aus der blutigen Masse heraus. Kein Puls, keine Atmung war auszumachen. Allerdings auch keine äußerlichen Verletzungen, soweit man das in all dem Walmatsch und Blut überhaupt ausmachen konnte. Einer der begleitenden UN-Soldaten zog dem Mann seinen altmodischen Motorradhelm vom Kopf, strich mit seinen vor Aufregung zitternden Händen das unbeschreibliche, schmierig-blutige Zeug so gut er konnte zuerst aus seinem, dann aus Salvatores Gesicht, unterdrückte den Brechreiz und begann, das Opfer des toten Wals zu beatmen und sein Herz zu massieren und fuhr damit fort, bis ein Krankenwagen eintraf. Gerade als sich der Notarzt, gegen die Übelkeit ankämpfend, die ihn am Unfallort wie ein Schlag getroffen hatte, über den Körper beugte, der von den Innereien, dem Blut und den stinkenden Ambra-Klumpen um ihn herum kaum zu unterscheiden war, betrachtete Salvatore die Szenerie mit tiefer Freude und einer bis dahin für ihn gänzlich unbekannten Gelassenheit. Wie ein kühnes, von Rot- und Violetttönen geradezu überbordendes Gemälde mit einem himmelblauen Bildhintergrund breitete sie sich über ihm aus. Über ihm. Jetzt erst bemerkte Salvatore, dass er sich selbst und alles andere von unten sah, umrahmt von den feucht glänzenden Schlieren, Schlingen und Klumpen, die ihn eben noch bedeckt hatten. Er sah den Notarzt, der sich auf Salvatores Reanimation vorbereitete und seinen Rettungssanitätern Kommandos zurief, sah den Walkadaver, dem Eingeweide wie eben erst erstarrte Lavaflüsse aus dem aufgerissenen Leib hingen, sah die Menschen, die rundherum um Fassung rangen und über das Geschehen staunten, das selbst den abgebrühten Bovnikern wie das ultimative und sprichwörtliche Blutbad erscheinen musste, und darüber den blauen, strahlenden Morgenhimmel, sah alles, als bestünde der Boden aus Glas oder Wasser und Salvatore schwebe heiter spielend darunter her. „Traum“, dachte Salvatore. „Wie schön.“
In ihrem leichten, dunkelblauen Mantel, mit einer großen, sehr dunklen Sonnenbrille auf der Nase, Ballerinas an den Füßen und einem einfachen Einkaufsbeutel, der an ihrer Armbeuge baumelte, sah Vera aus wie die meisten der Bovniker Frauen, die an diesem Abend in der Stadt unterwegs waren. Aus allen Richtungen strebten sie und viele Männer, auch Kinder und Jugendliche, dem Platz des Sieges zu. Die meisten Frauen trugen zwar keine blonde Perücke wie Vera, aber sie mussten ja auch ihre Identität nicht verbergen. Sie führten nichts Unerwünschtes im Schilde, wollten ihre Besorgungen machen oder die Ansprache des Präsidenten hören, oder beides. Vera führte etwas im Schilde. Sie trug eine Waffe in ihrem Einkaufsbeutel, eine neu entwickelte, chemische Waffe, die sie an diesem Abend zum ersten Mal einzusetzen gedachte. Der Aufdruck „WE KNOW!“, der in Bovnik Tausende Einkaufsbeutel zierte und auch sonst allgegenwärtig war, widersprach in seiner keinen Widerspruch duldenden Selbstgerechtigkeit Veras Überzeugungen auf fundamentalste Weise, doch zur Tarnung taugte der Beutel ausgezeichnet. Veras Puls ließ die Adern an ihren Schläfen hervortreten, das spürte sie, und die lockige Perücke wirkte in der warmen Abendluft beinahe wie eine Wollmütze; schon rann ein Schweißtropfen in Veras linkes Auge, das gleich ein wenig brannte. Sie pustete den Tropfen beiseite, doch er brannte weiter. Sie war beinahe am Ziel angekommen, einer wegen Kriegsschäden gesperrten und mehrfach verwinkelten Gasse etwas oberhalb des Platzes, auf dem sich schon etwa dreitausend Menschen vor dem Rednerpodium versammelt hatten. Mit gleichmäßigen Schritten und gerade so eilig, dass sie noch nicht auffiel, setzte sie ihren Weg fort. Vera sammelte ihre Gedanken und erinnerte sich daran, was ihr Plivia, ihre Trainerin, eingeschärft hatte: „Gesteh dir deine Nervosität ein, bevor du deine Aktion ausführst. Sag es leise für dich. Das verschafft dir wieder einen klareren Kopf und du kannst dich besser konzentrieren. Jeder ist nervös vor so einer Sache, gerade beim ersten Mal.“ Dann hatte Mikos, der Anführer, Veras verständnisloses Gesicht als Aufforderung missverstanden, ihr die biologisch-psychologischen Hintergründe zu erläutern und ihr etwas vom „präfrontalen Kortex“ erzählt, der durch die Formulierung der Angst geleert und wieder zur Verwendung freigegeben wird, wobei ihm Vera nicht folgen konnte, sich jedoch immerhin einprägte, was zu tun sei. Also sagte Vera nun ganz leise: „Ich bin verdammte Scheiße Scheiße Scheiße nervös.“ Das traf zu, sie war ungeheuer nervös. Denn nicht nur war ihre Aktion geeignet, sie geradewegs in eine Gefängniszelle zu befördern, sie sollte auch ihre Eintrittskarte in den inneren Kreis der Aktivisten von AR sein, eine Art Reifeprüfung der Bovnik-Guerilla. Deshalb führte sie die Aktion auch ganz allein durch. Wochenlang hatte sie dafür geübt, jeden Tag vor oder nach der Arbeit war sie zum alten Stadtweiher gegangen, um Frisbee zu spielen. Ein, maximal zwei andere aus der Guerilla, deren Namen sie nicht kannte, hatten mit ihr zusammen trainiert. Die ausgemergelten, mit Schutt übersäten Wiesen beim alten Stadtweiher waren ein beliebter Platz für die wenigen Frisbeespieler, Jongleure und Diabolo-Fanatiker in Bovnik. Unmöglich, dort als Staatsfeinde aufzufallen, wenn man nichts tat, als Frisbee zu spielen. Nur die letzten zwei Wochen hatte Vera in einer der vielen leer stehenden Fabrikhallen geübt, denn das Frisbee war nun mit einer Komponente versehen worden, die entscheidend für den Erfolg der Aktion war, es aber unmöglich machte, damit in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Sie sorgte dafür, dass die Moleküle des Frisbees, war es einmal aus der stickstoffgefüllten Schutzhülle entnommen, mit der Luft reagierten und auskristallisierten. Nach etwa dreißig Sekunden wurde der flexible Stoff, der mit unterschiedlichen Wirkstoffen versetzt werden konnte, zu einem hochsteifen, glasartigen, aber noch immer sehr leichten Material, das ab einem gewissen Grad von Erschütterung zu Millionen feiner Krümel zerfiel. Der Wirkstoff für den heutigen Abend, der Weltpremiere des Guerilla-Frisbees, war das Glanzstück des Chemikers, der auch das Material des Frisbees entwickelt hatte. Vera wusste nicht, wer dieser Chemiker war (er hieß Pol) und wie er aussah (er sah langweilig aus), sie wusste nur, dass dieses Frisbee den Wirkstoff enthielt. Diesen Chemiker Pol kannte Vera allerdings schon seit Längerem, wenn auch aus reinem Zufall und ohne zu wissen, dass der träge junge Mann mit dem stets etwas verstörten Gesichtsausdruck, dem sie fast täglich begegnete, eben dieser Untergrund-Chemiker war. Er belieferte nämlich die Espresso-Bar, in der sie arbeitete, mit Süßgebäck. Pol wiederum wusste nicht, dass die langhaarige Brünette aus der Bar, mit dem breiten, ernsten, aber sympathischen Gesicht, mit der er gerne näher bekannt geworden wäre, ebenfalls dem Kreis der Aktivisten von AR angehörte und dazu ausersehen war, seine neueste Erfindung auf möglichst eindrückliche Weise der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Das gegenseitige Unwissen hatte Methode, diente den Aktivisten zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz davor, jemand anderen im Falle einer Verhaftung zu verraten. In einem Kleinstaat wie Bovnik war die Wahrscheinlichkeit, einander zu kennen, viel höher als in größeren Ländern. Daher sollten die einzelnen Aktivisten auch nicht mehr voneinander erfahren, als unbedingt notwendig war, und das war meist gleichbedeutend mit Nichts. Wie viele „Laborratten“ verfügte der Chemiker Pol nur über ein ausgesprochen kümmerliches Talent zu flirten, auch wenn er seinen Lebensunterhalt nicht als Wissenschaftler, sondern als Fahrer verdiente. Doch selbst wenn er ein attraktiver Charmeur gewesen wäre, hätte er bei Vera auf Granit gebissen. Sie hatte anderes im Kopf, als ihren zahlreichen unerfreulichen Erfahrungen mit Liebesabenteuern ausgerechnet während ihrer Initiation als Widerstandskämpferin eine weitere hinzuzufügen. Sie kannte ihre Unzulänglichkeiten im zwischenmenschlichen Bereich mittlerweile sehr gut – zu gut womöglich, um darin noch irgendeine Perspektive zu erkennen. So blieb dem schüchternen Chemiker immerhin eine kühle Zurückweisung erspart und das Thema „Backwaren“ konnte, jedenfalls vorerst, in seinem Bewusstsein ohne größere emotionale Enttäuschung überdauern, sodass er eines Morgens während einer Auslieferungstour auf die Idee kam, einmal ein Werkzeug des Widerstands zu backen und es bis zur Anwendungsreife weiterzuentwickeln. Diese unkonventionelle Herstellungsmethode musste allerdings eine Ausnahme bleiben, denn er wollte vermeiden, dass die Spuren, die seine Entwicklungen nach ihrem ordnungsgemäßen Gebrauch hinterließen, Verbindungen zu Bäckereien – und damit zu ihm selbst – nahelegten.
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