„Spätestens, wenn die von der Regierung irgendeinen Hinweis auf dich haben, ganz egal wie konkret, musst du abtauchen!“
Bisher sei es allen Aktivisten gelungen, vollkommen unentdeckt zu bleiben und ihr bürgerliches Leben weiterzuführen. Doch irgendein dummes Missgeschick oder ein Zufall könnten das ganz schnell ändern.
„Und wenn sie rauskriegen, wer ich bin?“, hatte sie gefragt.
„Dann sollte deine Familie am besten schon gar nicht mehr wissen, dass du mal zu ihnen gehört hast.“ Damit spielte er darauf an, wie Bovniker Familien gemeinhin mit „unpatriotischen“ Familienmitgliedern umsprangen (das konnten Deserteure sein oder ganz einfach jeder, der dem Druck des Krieges nicht gewachsen war): Sie verstießen oder denunzierten sie oder wurden von der Geheimpolizei oder ihren Nachbarn dazu gebracht. Mikos wusste ja nicht, dass Veras Familie keine von dieser Sorte war, und Vera hatte den Impuls, ihm das zu verraten, glücklicherweise unterdrückt. Aber dann hatte Mikos gelacht und gesagt, es sei doch alles halb so wild, schließlich wende AR grundsätzlich keine Gewalt an und Vera hätte deshalb nicht mehr zu befürchten als ein paar Tage Knast oder eine Geldstrafe. „Ich will nur sicherstellen, dass wir vorsichtig bleiben. Wir müssen es ja nicht unbedingt drauf anlegen, geschnappt zu werden, oder? Besser wir bleiben anonym.“
Es nutzte nichts. Ihre Hand zitterte so stark, dass sie mit dem Schlüssel nicht das Schlüsselloch traf. Sie konnte das Schloss nicht einmal richtig sehen, denn ihre Augen flimmerten seit dem dritten Stock immer stärker. Vera lehnte sich gegen die Tür. Bloß nicht ohnmächtig werden. Ihre Familie würde den Lärm hören, wenn sie auf das Linoleum aufschlug, und dann würden sie ihr wieder Fragen stellen, ihr Opa, ihr Vater, und ganz bestimmt ihre Mutter. Also atmete sie tief und gleichmäßig, wie Mikos es ihr eingeschärft hatte, schloss die Augen für einen Moment, machte sich bewusst, dass sie es geschafft hatte, dass sie nicht in Gefahr schwebte. Vermutlich jedenfalls. In ihrem Schwindelgefühl sah sie wieder das „Schattenreich“ vor sich, ein dunkles, undurchdringliches, höhlenartiges Gebilde, angefüllt mit verborgenen Obsessionen, enttäuschten Hoffnungen, aufgehäuften Schmerzen und unerfüllten Wünschen, das sie nie wirklich zu fassen bekam oder lokalisieren konnte, über das immer nur geschwiegen wurde, von dem sie aber seit ihrer Kindheit glaubte, es befände sich direkt unter ihnen, ja ganz Bovnik sei geradezu darauf gebaut wie auf einer brüchigen Eierschale. Sie konnte durch die Tür ihren Opa hören. Gut, so konnte sie sich orientieren und ihre Gedanken auf etwas anderes lenken. Vladimir schien sich wieder mit einem Buch zu beschäftigen und die ganze Familie daran teilhaben zu lassen, wie er es oft tat.
„Ich glaube, du hast nicht zugehört, mein Sohn“, hörte sie seine immer etwas theatralisch gestützte Stimme, die sich gegen unverständliches Gemurmel durchzusetzen gedachte. „Was er dem toten Hamlet anvertraut, das ist kein Spott, es ist die Wahrheit. ‚Denn wie du richtig meintest Dänemark ist ein Gefängnis.‘ Den letzten Teil des Satzes stattete Vladimir mit einem Tremolo aus, das einem Shakespeare-Darsteller des neunzehnten Jahrhunderts Ehre gemacht hätte, woraus Vera ableitete, dass es sich hierbei um ein Zitat des betreffenden Dichters handeln musste. Gefängnis. Ausgerechnet, dachte Vera und traf dieses Mal mit ihrem Schlüssel das Schloss.
„Das ist nicht Fortinbrasʼ Meinung, oh, guten Abend Kleines, hast du einen schönen Tag gehabt, sondern die einfache Wahrheit, auch dieses Scheusal von Fortinbras ist gefangen, in dem Land, das er selbst ... in diesem, seinem Leben, verstehst du?“
Wie immer machte Großvater Vladimir keine Pause in seinem Gedankengang, als Vera eintrat und von den Anwesenden nach und nach bemerkt und mit freundlichem Kopfnicken oder geschäftigem Lächeln begrüßt wurde. Einzig Veras Bruder Jan am Küchentisch zeigte überhaupt keine Regung, was sie von ihm allerdings auch nicht erwartete, denn er nahm eigentlich an nichts irgendeinen Anteil, außer an dem knapp ziegelsteingroßen, tragbaren Fernsehgerät in seiner Hand. In das starrte er eigentlich immer hinein, wenn er nicht in seiner Imbissbude die Würste auf dem Grillrost anstarrte, um nicht in die verkrampften Visagen seiner Kundschaft schauen zu müssen. Den Unwillen seiner Kunden auf sich zu ziehen, indem er in ihrer Anwesenheit Fernsehen schaute, riskierte er lieber nicht, denn seine Bude stand durch einen glücklichen Zufall seit ein paar Wochen mitten im Kampfgebiet und er machte blendende Umsätze. Außerdem hatte er die Angewohnheit, sich kleine Ohrhörer in seine Gehörgänge zu stecken, um einen halbwegs vertretbaren Ton zum Bild zu bekommen, und in seiner Familie hatte er diese im Grunde unverschämte Angewohnheit mit Beharrlichkeit durchsetzen können – gegenüber hartgesottenen und übel gelaunten Soldaten beider Lager mochte er sich lieber nicht erproben. Dass Vera ihm die Strickmütze, die er nicht einmal im Bett ablegte, im Vorbeigehen über die Augen zog, kommentierte er bloß mit demselben verlegenen Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn Vera ihn auf diese Weise neckte. Sein großer Mund mit den breiten Zähnen wirkte in diesem Moment noch grobschlächtiger als sonst. Dann schob Jan die Mütze wieder an ihren alten Platz und vertiefte sich in das Geschehen auf dem Bildschirm. Vera gab die alte Gewohnheit, ihren kleinen Bruder beim Fernsehen zu stören, ein wenig innere Stabilität zurück, wenn man in ihrem Fall überhaupt von so etwas reden konnte.
„Du zitterst wieder, Schatz. Du wirst krank“, mahnte sie ihr Vater Ernèst, als sie ihm Küsschen gab. Der untersetzte Mann in seinem sommerlich hell gestreiften Hemd und der alten Kochschürze, die er darüber trug, rührte weiter in dem großen Topf mit Gemüsesuppe auf dem Herd und drehte sich zu seinem Vater:
„Warum sollte ausgerechnet Fortinbras gefangen sein?“
Auch Mathilde meldete sich nun zu Wort, obwohl es ihr unzweifelhaft schwerfiel.
„Das verstehe ich nicht également, mon chèr, bon soir, Vera, bon soir!“
Vera begrüßte ihre Großeltern Mathilde und Vladimir ebenfalls mit Küsschen und verschwand im Badezimmer, wo sie sich so leise wie möglich ins Klo übergab. Mathilde lag mit leidender Miene, ihren Kopf in den Schoß ihres neuen Lebensgefährten Vladimir gebettet, einen feuchten Lappen auf der Stirn, auf dem Sofa, Veras Schlafplatz in der Küche. Sie wurde häufig von Migräneanfällen heimgesucht und auch wenn die Anfälle deutlich weniger und schwächer geworden waren, seit sie und Vladimir sich gefunden hatten, war sie doch nicht ganz von ihnen befreit. An diesem Abend also hatte die Migräne sie wieder erwischt.
„Vladimir! Mein Kopfweh wird nicht besser, wenn ich verstehe nichts! Fortinbras hat doch gesiegt.“
Vera kam mit gewaschenem Gesicht und noch immer zitternden Händen in die Küche zurück. Sie knabberte an einer verkümmerten Möhre aus der Kiste in der Vorratskammer. Die Kiste war wieder einmal fast leer, die kostbaren Möhren und Kartoffeln schwammen im Topf auf dem Herd. Sie wechselte einen Blick mit dem Kind.
„Eben“, schaltete sich Ernèst wieder ein. „Er hat den Krieg gewonnen und das Land erobert.“
„Aber genau darum geht es doch in diesem Gedicht“, argumentierte Vladimir. Er liebte solche Diskussionen und provozierte sie, wann immer er konnte. Seine Familie diskutierte allerdings nicht aus bloßer Gefälligkeit, sondern aus Interesse und dem Mangel an vergleichbaren intellektuellen Herausforderungen ebenfalls nicht ohne Vergnügen über Vladimirs Einwürfe und Vorträge. Der setzte nun zur Tiefenanalyse an:
„Er hat gewonnen, aber ist lebenslänglich verurteilt, der Mächtige zu sein. Er weiß selbst zu genau, dass er nichts ist, Staub, ein Bäuerchen der Geschichte! Gefangen in diesem Wissen und dieser, seiner Welt. Unserer Welt.“
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