Als ich erwachte war es schon spät am Abend. Kaltes Mondlicht fiel in mein Schlafzimmer und die Digitalanzeige meines Radioweckers zeigte in leuchtend roten Zahlen an, dass es 23:16 war.
Ich ließ meinen Kopf wieder auf das Kissen sinken. Als käme ich langsam aus einer Nebelschwade hervor, schälte sich aus meinem Verstand allmählich wieder die Erinnerung daran heraus, was ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause erlebt hatte. Diese unglaublich kalte Wand, die mich umgeworfen hatte. Die Kopfschmerzen danach. Der Schmerz an meinem Steiß. Zumindest konnte ich nun feststellen, dass die Kopfschmerzen sich ein wenig zurückgezogen hatten und einem dumpfen Pochen gewichen waren, das ich ignorieren konnte, wenn ich mich anstrengte. Ich schluckte trocken und merkte, dass meine Kehle völlig ausgedörrt war. Das gab mir Anlass, aufzustehen.
Ich lief durch die dunkle Wohnung in die Küche und machte dort das Licht an. Aus dem Kühlschrank wollte ich eine Flasche Wasser nehmen, aber es war keines mehr da. Dafür aber eine Flasche Budweiser als Alternative. Ich wusste, dass es nicht gut für meinen Kopf wäre, wenn ich jetzt Alkohol trank. Andererseits verspürte ich ein fast archaisches Verlangen danach. Ich griff nach der Flasche und setzte mich an den Küchentisch. Dann überlegte ich es mir anders und ging ins Wohnzimmer.
Igor lag auf dem Sofa und schlief. Als ich mich neben ihn setzte, hob er den Kopf und sah mich mit seinen grünen Augen an. „Abend, alter Kumpel“, sagte ich. „Was dagegen, wenn ich ein wenig Musik anmache?“ Er sagte nichts und musterte mich stattdessen aufmerksam. Ich schaute ihn ebenfalls an. Er machte keine Anstalten, als Erster wegzuschauen, und das brachte mich dazu, ein lautes Lachen auszustoßen. Der Klang, den es erzeugte, gefiel mir nicht. Es war irgendwie rostig und entsprach mehr dem Gegacker eines alten senilen Mannes. Das erschreckte Igor und er war mit einem Satz von der Couch gesprungen und in den Flur verschwunden. „Okay“, sagte ich in den leeren Raum. „Die besten Witze sind eh die, über die man nur selber lachen kann.“
Ich ging zum CD-Regal und sah meine Sammlung durch. Pink Floyd, dachte ich. Genau das Richtige jetzt. Ich schob die CD in den Player, drehte den Lautstärkeregler auf und setzte mich wieder auf das Sofa. Dann sprang ich auf, lief in den Flur und kramte das Foto von Annabell Conway aus meiner Jackentasche. Ich küsste es und lief mit ihm zurück ins Wohnzimmer. Dort legte ich es auf den Couchtisch, so, dass ich es sehen konnte, wenn ich mich zurücklehnte. Ich hielt das Budweiser in einer Hand, eine Zigarette in der anderen und lauschte den Klängen von Shine on you crazy diamond. Die Musik beruhigte mich, drang in all meine Poren und vertrieb jeglichen Schmerz. Ich dachte nur noch an Annabell Conway. Irgendwie musste ich mir die Tatsache eingestehen, dass ich mich in sie verliebt hatte. Das klang verrückt. Wer verliebte sich schon in das uralte Foto einer Frau, die schon lange tot war? Aber nach allem, was ich erlebt hatte, seit sich das Foto in meinem Besitz befand, wusste ich, dass es etwas zu bedeuten hatte und dass die Dinge langsam aus den Fugen gerieten. Ein großes Rad war in Bewegung versetzt worden und ich drehte mich nun mit ihm. Einem Teil meines Verstandes gefiel das ganz und gar nicht; aber ein anderer Teil wollte sehen, was sich tat. Denn irgendetwas würde geschehen, dessen war ich mir sicher. Ich musste nur abwarten und...
„Thomas!“ Ein Ruf, wie aus weiter Ferne, drang durch die laute Musik an mein Ohr. Ich hielt ihn für Einbildung und machte keine Anstalten zu antworten, noch aufzustehen. Ich nahm noch einen Schluck Bier und ließ die Flasche dann fallen, weil Mary Stoleham plötzlich in meiner Wohnung stand und mich mit sorgenvollem Blick musterte. Bier lief über mein Hemd und meine Hose und wie im Traum sah ich, wie Mary die Lippen bewegte und etwas sagte. Aber ich war wie gelähmt, unfähig mich zu rühren. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten?
Plötzlich wurden die Klänge von Comfortably Numb abgewürgt und Stille herrschte. Mary kam zu mir, setzte sich neben mich aufs Sofa und sah mich mit sorgenvollem Gesicht an. „Thomas, ist alles in Ordnung mit dir?“ In ihrer hellen Stimme lag der Tonfall, den man benutzt, wenn man mit einem Geistesgestörten redet. Das machte mir Angst. Aber noch schlimmer war, dass Mary, meine Mary, von einer Sekunde auf die nächste in meiner Wohnung, meinem Wohnzimmer, meiner Couch neben mir war, als habe sie sich aus dem Nichts materialisiert. Ich war unfähig zu sprechen, so überrascht war ich über diesen Umstand.
Sie hat einen Schlüssel, Dummkopf!, sagte die kalte Stimme in meinem Kopf. Sie hat sich Sorgen gemacht und ihn benutzt. Darum ist sie in diesem Augenblick in deiner Wohnung und mustert dich, als wärst du der Mann im Mond oder ein seltenes Exemplar einer vom Aussterben bedrohten Affenart.
„Was machst du hier, Mary?“ Meine Stimme klang äußerst seltsam. Falsche Unbeschwertheit drang in meine Ohren. Ich nahm wahr, dass Mary eine weiße Bluse und einen schwarzen, wadenlangen Rock trug. Ihr Haar wallte wie kochende Milch um ihr Gesicht und rahmte dessen Ausdruck ein.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, Thomas. Was denkst du denn? Ich habe ein dutzend Mal versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen. Außerdem habe ich dir bestimmt fünf SMS geschrieben.
Ich hatte kein Festnetztelefon, nur ein Handy, das Mary mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Zurzeit befand es sich wahrscheinlich irgendwo in meiner Jacke. Ich benutzte es nicht oft. Hättest du lieber tun sollen, Schwachkopf!, sagte die Stimme in meinem Kopf. Und wahrscheinlich hatte sie Recht. Dann hätte ich mir zumindest diese unangenehme Situation erspart. Ich saß da, mit von Bier durchweichten Sachen, stank nach Rauch und Schweiß. Wer wusste, was ich sonst noch für einen Anblick bot. Zu allem Überfluss lag natürlich noch das Foto, als einziger Gegenstand (außer eines Glasaschenbechers, der zur Hälfte mit Asche und Zigarettenstummeln gefüllt war), auf dem Tisch. Das Schlimmste schien mir jedoch zu sein, dass ich unfähig war, zu sprechen. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, der dabei ertappt worden war, wie er im Schlafzimmer seiner Eltern heimlich die Sachen seiner Mutter anprobierte.
Ich sah Mary an, deren Stirn sich in Falten zog, und die auf eine Antwort wartete. Als ihr klar wurde, dass sie keine bekam, legte sie ihre drängende Art ab und sprach in sanfterem Tonfall weiter. „Okay, Thomas. Komm mal her.“ Sie zog mich in ihre Arme, noch bevor ich etwas dagegen tun konnte. Ihre Bluse würde von dem Bier benetzt werden, das an meinen Sachen klebte. Aber ich ließ es dennoch zu. Dies waren die Augenblicke, deretwegen ich Mary liebte. Egal, was geschah, sie zeigte einem immer erst, dass grundsätzlich alles in Ordnung war und dass man über alles reden konnte. Ich spürte ihren Busen an meiner schmalen Brust und irgendetwas an dieser Berührung, an Marys festem Druck und ihrer Liebe, die mich wie ein Kokon umgab, brachte mich zum Weinen. Tränen liefen meine Wangen hinunter und ein kehliger Laut drang aus meinem Mund, der sich zu einem Schluchzen steigerte.
Mary drückte mich noch fester an sich und flüsterte etwas.
„Also, Thommy. Was ist los, hm?“
Ich hatte mich wieder beruhigt und saß jetzt still und beherrscht neben Mary, die sich eine Zigarette angezündet hatte.
„Hör zu, es tut mir leid, dass ich hier einfach so hereingeplatzt bin. Aber nachdem mich Claudia angerufen hatte und ich dich nicht erreicht habe, habe ich mir Sorgen gemacht.“
Natürlich, dachte ich, Claudia Hertz. Ich überlegte noch immer, was ich ihr sagen sollte. „Mary, ich war einfach völlig fertig, als ich nach Hause kam. Ich bin sofort ins Bett gefallen und erst vor kurzem wieder aufgewacht. Es besteht also kein Grund zur Sorge.“ Ich hoffte, dass das halbwegs plausibel klang. Doch wusste ich, sofort, nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, dass das nicht der Fall war. Um Marys Blick auszuweichen, zündete ich mir ebenfalls eine Zigarette an.
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