„Claudia hat mir erzählt, dass du seit zwei Tagen irgendwie... Nun ja, dass du dich irgendwie seltsam verhältst. Abwesend bist.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Außerdem...“ Sie zögerte. „Außerdem hat sie mir auch von diesem Foto erzählt, das dort liegt.“ Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung des Fotos. Ich sah ebenfalls dort hin. Ich konnte deutlich die Augen von Annabell Conway sehen. Sie schienen mich dazu aufzufordern, Mary davon abzuhalten, weiter von dem Foto zu reden. Und genau das hatte ich auch vor.
„Und?“, fragte ich.
„Nun, Claudia meinte, du warst so in Betrachtung des Fotos versunken, dass du sie gar nicht bemerkt hast, als sie ins Büro kam. Sie hätte mindestens zwei Minuten hinter dir gestanden, ehe sie etwas zu dir sagte. Ihr kam das irgendwie seltsam vor, als wärst du in Trance oder so.“
Ich schaute Mary direkt an, die jetzt etwas verunsichert aussah. Ich bemühte mich, einen Blick aufzusetzen, der ausdrücken sollte, dass das alles Humbug war und nicht der Rede wert. Nach einer Weile schaute sie weg. Sie hatte rote Wangen bekommen und ich deutete dies als gutes Zeichen. Es widerstrebte mir eigentlich, Mary anzulügen, aber ich hatte im Moment keine andere Wahl. Wer wusste, was geschah, wenn ich ihr die Wahrheit sagte...
„Schön, Mary“, sagte ich. „Es mag sein, dass ich in letzter Zeit ein wenig nachdenklich bin. Es mag ebenfalls sein, dass ich weggetreten wirke und mich für andere Leute seltsam verhalte. Aber denkst du ernsthaft, dass das irgendetwas mit dem Foto zu tun hat? Du weißt, dass es viele andere Gründe dafür geben kann. Außerdem haben wir bald Weihnachten und du hast mich um diese Zeit oft genug erlebt, oder?“
Sie schaute wieder auf, mit rosigen Wangen, und nahm einen schnellen Zug von ihrer Zigarette. „Ja, Thomas, das habe ich. Und ich weiß, zu was du in diesem Zustand in der Lage bist. Hast du wieder damit angefangen?“
Das Gespräch nahm eine Wendung an, die mir immer unangenehmer wurde. Aber daran war ich selber Schuld. Ich hatte ihm diese Richtung gegeben.
„Nein“, sagte ich. „Nein, Mary, ich habe es seit zwei Jahren nicht mehr getan. Das weißt du doch, oder?“
„Ja, natürlich, Thomas.“
„Gut.“
Für eine Weile lag betretenes Schweigen im Raum. Ich dachte schon, das Gröbste wäre vorbei, als sie wieder anfing. „Vielleicht wäre es besser, wenn du wieder zu Dr. Hanslow gehst. Ich meine ...“
„Nein, ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Dr. Hanslow hat mir auch nicht wesentlich weiterhelfen können. Man muss das selber durchstehen.“
Mary beugte sich nach vorne, um ihre Zigarette auszudrücken. Dabei fiel ihr Blick auf das Foto und verharrte eine Weile dort. Als sie mich wieder ansah, wusste ich, dass das Gespräch beendet war.
„Also schön, dann werde ich mal wieder gehen.“ Ihr Gesichtsausdruck kam mir jetzt noch besorgter vor, außerdem hatte sich eine Spur Resignation hineingeschlichen. Das tat mir leid. Es schmerzte mich, Mary so zu sehen. Doch im Moment wollte der größte Teil von mir, dass sie einfach nur ging und mich mit meinen Gedanken allein ließ.
„Okay“, sagte ich.
Wir standen auf und ich brachte sie zur Tür. Sie stand vor mir, mit gesenktem Kopf und nestelte an ihrer Jacke herum. „Ich melde mich bei dir. Wenn du willst, kannst du dich ja auch melden.“ An ihrer Stimme hörte ich, dass sie nicht davon ausging, dass ich das tun würde.
Ich antwortete nicht darauf. Stattdessen nahm ich sie in den Arm und sagte: „Danke, Mary.“
Als ich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lehnte ich mich an die Wand des Flures, schloss die Augen und atmete einen Augenblick tief durch. Dann ging ich ins Bad und nahm eine Dusche, um mir das Bier und die Aura der letzten halben Stunde vom Körper zu waschen.
Um ein Uhr nachts saß ich, in meinen Bademantel gehüllt, wieder auf dem Sofa in meinem Wohnzimmer. Ich war damit beschäftigt, nachzudenken. Irgendwie war ich immer noch verstört dadurch, dass Mary so plötzlich in meiner Wohnung gewesen war. Aber das Schlimmste war das Gespräch gewesen, in dem ich sie angelogen hatte. Ich hatte mich mit einer argen Ausrede aus der Affäre ziehen wollen.
Ja, es stimmte, ich war für gewöhnlich um die Weihnachtszeit herum ein wenig seltsam. Vielleicht könnte man es als eine Art Depression bezeichnen, aber das bezweifelte ich. Wenn überhaupt, litt ich die ganze Zeit über an einer ständig unterschwellig vorhandenen Depression, die sich zu dieser Zeit nur steigerte. Der Grund dafür war sehr simpel: Am 22. Dezember 1989 waren meine Eltern bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Sie waren auf dem Rückweg von einer Weihnachtsparty bei Bekannten und mein Vater hatte zu viel getrunken. Auf einer Landstraße außerhalb Meltrays hatte er die Kontrolle über den alten braunen Ford Kombi verloren und das Auto hatte sich ein paar Mal überschlagen. Meine Mutter war nicht angeschnallt gewesen und wurde aus dem Wagen geschleudert. Sie brach sich das Genick. Mein Vater erlitt einen Schädelbruch. Als es passierte, war ich allein zu Hause. Irgendwann mitten in der Nacht kam Mary Stoleham, eine der besten Freundinnen meiner Mutter, in unsere Wohnung. Bei ihr war ein Polizist. Ich hatte geschlafen und als das Licht plötzlich in meinem Zimmer anging und ich den Uniformierten und Mary sah, spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Dass etwas ganz und gar nicht so sein sollte, wie es war.
Die erste Zeit nach dieser Sache kam ich in ein Heim. Dann schaffte es Mary irgendwie, dass ich bei ihr wohnen konnte und dass sie sich um mich kümmern konnte. Ich fragte sie einmal, warum sie das getan hatte. Sie hatte geantwortet, dass sie es erstens meinen Eltern schuldig gewesen wäre und, dass sie zweitens wüsste, dass ich es bei ihr besser hätte, als unter staatlicher Fürsorge.
So wuchs ich also von meinem neunten Lebensjahr an bei Mary auf. Sie war immer gut zu mir und behandelte mich, als wäre ich ihr eigenes Kind (vermutlich war ich das auf eine bestimmte Art und Weise auch; sie hatte nie eigene Kinder gehabt). Ich sah sie auch als meine Mutter an. Jedenfalls bis sich die Dinge änderten und sie eine Frau für mich wurde und ich zu einem Mann...
Ich kam damals in psychologische Behandlung zu Dr. Hanslow. Einem Mann, der mir äußerlich immer so schien, als habe er die Zeit der Hippies nicht überlebt. Ich war ein ruhiges, in mich gekehrtes Kind, das kaum Freunde hatte und nicht viel redete. Irgendwann kam ich mit allem halbwegs klar. Ich ging zur Schule, lebte mit Mary und wuchs heran. Als ich sechzehn war, stellten sich meine „Weihnachtsdepressionen“ ein und ich begann, jedes Jahr um diese Zeit, mir die Arme mit Rasierklingen aufzuschlitzen. Jedes Mal, wenn ich mich schlecht fühlte, griff ich zur Klinge. Mary merkte das natürlich irgendwann und ich musste wieder zu Dr. Hanslow...
Die Erinnerung an all diese Dinge kam mir wieder in den Sinn und ich spürte, wie sie mich mit sich reißen wollten. Sie hatten eine große Macht, diese Gedanken, und man musste vorsichtig mit ihnen umgehen. Außerdem fühlte ich mich schlecht, weil ich Mary angelogen hatte. Aber was hatte ich denn für eine Wahl gehabt? Meine „Weihnachtsdepression“ war dieses Jahr ausgeblieben, stattdessen war ich mit einem Foto und einem unbekannten Beobachter beschäftigt. Wie hätte Mary das verstehen können, wo ich es selbst nicht verstand?
Schwerfällig stand ich vom Sofa auf. Ich war unglaublich müde und wollte nur noch ins Bett. Doch mein Blick fiel auf den Couchtisch und ich sah das Foto von Annabell Conway. Ihre traurigen Augen verursachten fast so etwas wie ein Schuldgefühl in mir, weil ich sie so lange nicht beachtet hatte. Ich nahm das Foto, küsste es und trug es ins Schlafzimmer. Dort stellte ich es an meine Nachttischlampe und schlief, noch während ich es betrachtete, ein.
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