Marc Wulfers - Obscurus

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Willkommen am Rand der Wirklichkeit…
Als Thomas Holden das verblichene Foto einer jungen Frau in seinem Briefkasten vorfindet, ist er sofort fasziniert von der fremden Schönen, die aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint.
Immer mehr zieht ihn das Foto in den Bann, er wird von Visionen und Kopfschmerzen geplagt, bis er schließlich einen Mann trifft, der ihm anbietet, die Fremde kennenzulernen. Thomas willigt ein, obwohl er davon überzeugt ist, dass die Frau schon lange tot ist.
Zu spät bemerkt er, dass er einen teuflischen Handel eingegangen ist, der nicht nur ihn selbst, sondern alle Menschen, die ihm etwas bedeuten, in Lebensgefahr bringt. Die dunklen Geheimnisse seiner eigenen Vergangenheit ziehen ihn immer tiefer in einen Strudel aus Rache und Tod.
Thomas muss sich entscheiden: Ist er bereit, seine eigene Seele zu opfern, um eine andere zu erlösen?

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Obscurus

Roman von Marc Wulfers

© 2016 by Marc Wulfers

alle Rechte vorbehalten

Kontakt: wulfers84@web.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Die leise Angst

Tür eins: Das Foto

Tür zwei: Die Unvorhersehbarkeit des Lebens

Tür drei: Hinter den Spiegeln

Tür vier: Jeder hat seine Bestimmung

Tür fünf: Abgrund

Tür sechs: Lichtung

Tür sieben: Der Horizont

Epilog: Die Katze

Es gibt Dinge, die sind bekannt, und es gibt Dinge, die sind unbekannt, dazwischen gibt es Türen.

- William Blake (1757 – 1827), englischer Dichter, Mystiker und Maler -

Prolog: Die leise Angst

Er erwachte mitten in der Nacht und spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn. Sein Blick irrte im Raum umher, bis er schließlich in den Schatten die vertrauen Formen erkannte. Es ist nichts, dachte er. Nur ein Traum. Er ließ sich in die Kissen zurücksinken und lauschte den Atemzügen der Frau, die neben ihm lag. Sie war in Ordnung, ihr ging es gut. Und ihm ging es auch gut. Doch da war etwas, das diesen Gedanken störte und dafür sorgte, dass er nicht mehr einschlafen konnte. Früher hatte er selten nachts geschlafen. Er hatte nachgedacht, sich das Hirn zermartert und Talisker getrunken, bis er morgens verkatert mit dem Kopf auf seinem Schreibtisch aufgewacht war.

Aber das war vorbei. Menschen änderten sich, mussten sich ändern, wenn sie überleben wollten. Bei ihm hatte vor allem eines diese Veränderung ausgelöst: Verantwortung. Er wurde wieder gebraucht, und das hatte eine Saite in ihm zum Klingen gebracht, die lange Zeit verstummt war. Zuerst war es nur ein leiser, unsicherer Ton gewesen. Doch mit der Zeit war er kräftiger geworden und hatte schließlich eine Konstanz erreicht, die nur in seltenen Momenten unterbrochen wurde.

In Momenten wie diesem. Etwas klopfte leise an die Tür und begehrte um Einlass. Er wusste, was es war. Vor einiger Zeit hatte er es selbst ausgesperrt, in der Hoffnung, es zu vergessen. Aber Menschen vergessen selten etwas. Sie verdrängen es nur, so gut es eben geht.

Er wurde sich der Tatsache bewusst, dass er wieder grübelte. Das war nicht gut, überhaupt nicht gut. Er drehte sich zu der Frau, legte einen Arm um sie und schloss wieder die Augen. In nicht einmal drei Stunden würde er aufstehen müssen. Das hieß, falls ihn das Baby nicht vorher weckte. Das Baby, dachte er, als hätte er seinen Namen vergessen. Seine Hand zitterte leicht, als er damit sanft über die Wange der Frau strich.

Als er aus dem Haus trat, fühlte er sich gut. Die Sonne schien und es würde ein warmer Tag werden. Die Schatten der Nacht waren hinweggefegt und er verschwendete keinen Gedanken mehr daran. Er hatte seine Frau umarmt, wie jeden Morgen, bevor er zur Arbeit ging. Und er hatte David auf den Armen gehalten. David hatte etwas vor sich hingebrabbelt und ihn dann ernst angesehen. Natürlich hatte das Gebrabbel keinerlei Sinn ergeben, aber die Ernsthaftigkeit, mit der David es äußerte, war verblüffend. Das war ihm bei seinen beiden Töchtern nie aufgefallen. Er dachte an Joan und Tracy, die er am Wochenende wieder in seine Arme schließen konnte. Er war mit ihnen und mit seiner Ex-Frau ins Reine gekommen.

Als er den Stadtpark durchquerte, hatte er ein Lächeln auf dem Gesicht. Das Leben kann nicht besser, nicht schöner sein, dachte er. Er beobachtete ein paar Hunde, die einem kleinen Ball hinterherjagten. Ein Jogger lief an ihm vorbei und er lächelte ihn an, ohne dass es erwidert wurde. Aber das störte ihn nicht.

Er überquerte die Dixon Street und sah vor sich die Stadtbibliothek, vor der er einen Augenblick stehen blieb. Erinnerungen wollten sich in seine Gedanken stehlen, aber er kämpfte dagegen an. „Nein“, flüsterte er und lief dann mit festem Schritt an dem Gebäude vorbei.

Im Büro legte er seinen Aktenkoffer auf dem Schreibtisch ab und setzte sich dann in den Bürostuhl. Er sah aus dem Fenster und lächelte. Das Leben kann nicht besser sein, dachte er wieder.

Am späten Nachmittag kam Jenny, die Sekretärin, in sein Büro, um ihm ein Päckchen zu bringen.

„Das wurde gerade für Sie abgegeben, Dale.“

Er nahm seinen Blick nicht vom Monitor, sondern sagte geistesabwesend: „Danke, Jenny. Legen sie es da drüben auf den Tisch.“

Jenny tat es und verließ dann eilig das Büro. Früher war er Polizeiinspektor gewesen, doch nachdem das Baby gekommen war, hatte er sich von seiner Frau überreden lassen, diesen Beruf aufzugeben. Das Baby war nicht der einzige Grund, aber es war leichter, sich das einzureden. Was er nun tat, war zwar nur ein langweiliger Bürojob, aber man wusste wenigstens, was man zu tun hatte, alles war vorgegeben und fußte auf reiner Logik; und das Geld, das er verdiente, reichte aus, um seine kleine Familie zu versorgen. Im Grunde hantierte er nur mit Zahlen. Zahlen waren feste Größen und unumstößliche Tatsachen. Je länger er mit ihnen arbeitete, desto sicherer schien ihm auch sein Leben vorzukommen. Als ließe sich das Leben berechnen. Aber ein Teil in ihm wusste, dass man das nicht konnte. Eine leise Angst lauerte ständig in seinem Herzen und wenn er sich ihrer bewusst wurde, arbeitete er umso verbissener, bis ihm nur noch Zahlen im Kopf umherschwirrten.

Gegen achtzehn Uhr schaltete er den Computer aus und rief seine Frau an, um ihr zu sagen, dass er heim käme, wie jeden Tag. Danach stand er auf, nahm seinen Aktenkoffer in die Hand und wollte das Büro verlassen. Doch unvermittelt blieb er mitten im Raum stehen und betrachtete das Päckchen, das auf dem kleinen runden Tisch lag, der eigentlich keinen Zweck erfüllte. Er stellte den Aktenkoffer auf den Boden und ging hinüber, um das Päckchen zu öffnen. Als er es in Händen hielt, fühlte es sich schwer an. Er hatte keine Ahnung, was darin sein mochte. Der Absender sagte ihm nichts. Dort stand lediglich: R. Huntington, Clifton. Keine Straße oder Postleitzahl. Diese leise Angst stahl sich wieder an die Oberfläche.

Er drängte sie beiseite. Dann setzte er sich auf die kleine Ledercouch und atmete tief durch, bevor er das Päckchen öffnete.

Beim Abendessen saß er abwesend am Tisch.

„Alles in Ordnung, Dale?“, fragte seine Frau besorgt.

Er versuchte sie anzulächeln. „Ja. Mach dir keine Gedanken. Ich bin nur müde.“

Sie blickte ihn eine Zeitlang skeptisch an. Es war schwer, sie anzulügen. „Okay. Ich mache nur noch David fertig, dann können wir uns hinlegen. Vielleicht habe ich etwas, das dich deine Müdigkeit vergessen lässt.“ Sie zwinkerte ihm zu und nahm dann David auf den Arm, um mit ihm ins Bad zu gehen.

In dieser Nacht lag er wieder wach und starrte an die Decke. Er dachte an das Päckchen und dessen Inhalt. Das eine war ein Brief gewesen. Das andere sah wie ein Manuskript aus. Im Büro hatte er nur den Brief gelesen. Doch das hatte ihm schon gereicht. Ein Satz daraus ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie werden wissen, was zu tun ist. Er schloss die Augen und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Doch es gelang ihm nicht. Schließlich stand er auf und ging in sein Arbeitszimmer. Er schloss die Tür ab, machte die Schreibtischlampe an und holte den Stapel Papier aus seinem Aktenkoffer. Sein Herz klopfte schneller und seine Hände zitterten leicht, aber schließlich begann er zu lesen.

Tür eins: Das Foto

Ich erhielt das Foto am 16. Dezember 2002. Es war Montag und die Woche vor Weihnachten. Zwar hatte ich kaum Geschenke zu besorgen und blieb von den hektischen Einkäufen verschont, aber dennoch steckte mich das typisch hysterische Verhalten der Leute kurz vor Weihnachten an.

Ich arbeitete in der Stadtbibliothek von Meltray. Ich war kein Bibliothekar, aber dank Mary Stoleham arbeitete ich seit knapp einem Jahr dort, und so wie es damals aussah, würde ich das auch noch eine Weile tun.

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