Um den Augenblick zu leben, braucht es Achtsamkeit in seiner doppelten Bedeutung: auf etwas achten, im Sinne einer verbesserten Wahrnehmung. Es heißt aber auch: etwas achten, ihm Achtung entgegenbringen. Wir nennen das auch Wertschätzung. Also sehe ich nicht nur die verwelkten Tulpenstängel, die, ohne Blütenkrone, wahrhaftig keine Zierde sind. Ich weiß, dass ich sie stehenlassen muss, damit die Zwiebel im Boden neue Kraft schöpfen kann. Ich wende meinen Blick zu Pfingstrose und Blaukissen, übersehe bewusst die welken Tulpenstängel – auch dies eine Form der gelenkten Achtsamkeit. Einige Wochen später finde ich kantige Samenkapseln auf holzigen Stängeln. Jetzt wäre es an der Zeit die alten Tulpenreste wegzuräumen, auch die Samenkapseln sind für die Pflanze nur unnötiger Ballast. Aber ich lasse sie stehen. Sie gefallen mir. Oh, Augenblick …
In Frankreich besuchte ich viele Schlösser und ihre Gärten. Ich irrte durch Buchslabyrinthe und bewunderte die hohe Kunst des Barockgartenbaus: diese Wandelgänge, Schattenlauben, die Rosen- und Kräutergärten und ganz besonders den Blick von oben, wenn vor meinen Augen alles zu einem einzigen riesigen Teppich verschwamm. Das war Gartenkunst vom Feinsten. Bis zur Vollkommenheit gezähmte Gärten. Aber bei genauer Betrachtung zeigte sich: auch diese sorgfältig gepflegten und zurechtgestutzten Teppiche fransten manchmal an den Rändern etwas aus. An Stellen, wo das strenge Regiment auch nur kurzfristig gelockert wurde, dort schoss es sofort undiszipliniert ins Kraut. An diesen Stellen war der Garten nicht mehr sorgfältig dressiert, da wirkte er eher wie ein aufsässiges Kind, das mit aufgeschlagenen Knien und frechen Sprüchen im Mund die feine Verwandtschaft brüskiert. Wie erholsam waren dagegen die Spaziergänge in englischen Gärten. Sicher steckte auch in ihnen viel Arbeit, aber sie sind der Natur viel näher, sie scheinen mir sanft geleitet und nicht gezüchtigt – es wird dort vieles ausprobiert und noch mehr einfach zugelassen. Wobei die sanfte Leitung offensichtlich einmal in den Händen des Gärtners lag und an anderer Stelle und zu anderer Zeit in den Händen (?!) der Pflanzen.
Bevor ich England bereiste, wusste ich gar nicht, dass ich einen englischen Garten habe (wenn man einmal vom Rasen absieht, der partout nicht englisch werden will). Zugegeben, es ist ein sehr, sehr kleiner englischer Garten, aber es gibt keinen Zweifel: nicht nur ich pflege so machen Spleen, meine Pflanzen tun es auch.
Mein größter Spleen ist es, das Gartengerät einfach mal zur Seite zu legen und in manchen Ecken den Pflanzen das Regiment zu überlassen. Zugegeben, es ist nicht einfach, Dinge zuzulassen, die Hände in den Schoß zu legen, sich führen zu lassen, zu atmen und einfach einmal innezuhalten um wahrzunehmen. Den Augenblick zu leben ist hohe Kunst. Lebenskunst. Aber wenn es einfach wäre, dann wäre es auch keine Kunst.
Bäume tanzen barfuss
Mit frisch
Lackierten Blättern
Umwölken sich heimlich
Mit Duft aus Gelächter.
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