1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Irgendwann fällt mein Blick auf die Uhr und ich läute für Tom den Feierabend ein. Während Ben schon mehr oder wenig freiwillig die Spülmaschine einräumt, bringe ich Tom ins Bett. Es dauert gar nicht lange, und wir haben alles Nötige erledigt. „Was meinst Du, sollen wir uns etwas Gemütliches anziehen und uns einen Tee kochen?“ „Ja und Schokokekse dazu.“ Hmm, meine Figur sollte eindeutig „nein“ zu dieser Idee sagen, doch leider bin ich genau so ein Schleckermaul und kann die Finger ganz schlecht von nahezu jeder Art von Süßigkeiten lassen. Aber was soll´s, heute haben wir uns das echt verdient. Da es langsam etwas frisch wird draußen, hole ich die Decke hinein in die gute Stube und breite sie im Wohnzimmer auf dem Boden wieder aus. Dazu noch die großen Kissen von der Couch und schon ist die Kuschelecke fertig. Ben ist eigentlich den ganzen Tag lang immer in Bewegung und zappelig und hyperaktiv, aber wenn wir zusammen auf dem Boden liegen und lesen oder spielen, hat man das Gefühl, dass er endlich mal zur Ruhe kommen kann.
Es dauert gar nicht lange, und er kommt die Treppe hinuntergerannt und wirft sich schwungvoll auf die gemütlichen Kissen. Ich kann nicht anders, ich muss ihn direkt in meine Arme nehmen und feste an mich drücken. „Du hast eben gar nicht viel erzählt, wie war denn Dein Tag heute in der Schule?“ „Geht so.“ Es dauert immer ein wenig, bis er auftaut, aber mit etwas Geduld kommt er irgendwann dann doch aus sich heraus. „Wir hatten heute in der Pause den Soccer-Court.“ „Und, wer hat gewonnen?“, hake ich nach. „Kurz vor Ende der Pause stand es noch zwei zu zwei, und dann habe ich den Ball bekommen und Christian ausgedribbelt. Und dann treffe ich nur den Pfosten. Boah, die haben so gemeckert, weil ich den nicht reingemacht habe. Jetzt bin ich wieder der Loser.“ „Ach Mensch, das tut mir echt leid. Aber das kann doch jedem passieren.“ „Sag das mal dem Leo, dem Penner. Beim nächsten Mal wählt er mich bestimmt gar nicht mehr.“
Es tut mir in der Seele weh. So sehr er auch seinen Fußball liebt, er ist halt nicht der Beste auf dem Platz und seinen Kumpels kann er ja schlecht sagen: „Dabei sein ist alles!“ Wobei die meisten Jungs eigentlich richtig prima sind, egal ob in seiner Klasse oder seiner Fußballmannschaft. Aber es genügt ja einer, der einen blöden Kommentar machen muss. Und den gibt es natürlich überall. Wie sehr würde ich ihm mal ein Erfolgserlebnis wünschen. „Was haben denn die anderen Jungs dazu gesagt?“, hake ich nach. „David hat Leo gesagt, er soll die Klappe halten und dann sind wir weggegangen.“ „Finde ich gut. Es ist schön, wenn man Freunde hat, die zu einem halten. Und außerdem hat jeder irgendetwas, das er gut kann. Bei dem einen ist es das Fußballspiel, bei dem anderen etwas Anderes. Du zum Beispiel kannst wunderbare Geschichten erfinden. Hast Du Lust?“ „Au ja, dann aber wir beide zusammen!“
Das ist eins der Dinge, die uns beide besonders verbindet. Wir lieben es, wenn jemand mit einem Satz eine Geschichte beginnt und immer abwechselnd weitererzählt wird. Daraus entstehen oft die witzigsten Sachen. „Das Eichhörnchen war immer noch ganz traurig, weil seine Geschwister ihn wegen seines langen Schwanzes, über den es immer stolperte, aufgezogen hatten“, beginnt Ben unsere Geschichte. „Es wollte lieber allein sein und lief in den herbstlichen, bunten Wald hinein. Dort kletterte es hinauf in einen Baum, um sich eine der letzten Eicheln zu schnappen und genüsslich daran zu knabbern“, erzähle ich weiter. „Plötzlich hörte das Eichhörnchen ein wimmerndes Geräusch. Es lauschte eine ganze Weile, um herauszufinden, woher dieses Wimmern kam.“ „Und dann sah er es: Ein kleines Mäuschen lag ganz dicht am Baumstamm und zitterte vor Kälte.“
So entsteht nach und nach eine wunderbare Geschichte und ich bin sehr erleichtert, als ich am Ende in Bens Augen sehe und er richtig glücklich aussieht. Er hat wirklich eine Gabe, sich in andere Menschen oder auch Tiere hineinzuversetzen, hat unglaublich viel Phantasie und so ein liebenswertes und hilfsbereites Wesen. Manchmal wünschte ich mir, dass auch andere diese Seite von ihm sehen könnten.
Als er später im Bett liegt, sagt er: „Mama, weißt Du, was ich mir wünsche?“ „Nein, sag es mir!“ „Das nächste Mal erfinden wir eine Geschichte mit einem Delfin. Und dann erzählen wir nicht nur, sondern DU schreibst sie dabei auf! Kannst Du das machen? Sonst sind unsere Geschichten so schnell wieder vergessen.“ „Das ist eine richtig gute Idee, weißt Du das? Dann brauchen wir aber etwas mehr Zeit. Wenn Du Lust hast, können wir am nächsten Wochenende, wo ihr zu Hause seid, schon loslegen.“ „Ja“, antwortet er zufrieden und mit einem Lächeln im Gesicht. Lächelnde Kinder sind so ziemlich das Schönste, was es gibt.
Die Woche ist wirklich wie im Flug vorbeigegangen. Jetzt noch eine Stunde arbeiten und dann ist endlich Wochenende. Und wenn Paul die Kinder abgeholt hat und ich wenigstens das größte Chaos ein bisschen gelichtet habe, dann freue ich mich auf einen schönen Kinoabend mit Lissy.
„Frau Sommer, haben Sie den Eilantrag fürs Gericht fertig?“, holt mich Frau Dr. Holst aus meinen Gedanken. „Ja, liegt in der Unterschriftenmappe.“ Und schon eile ich zu ihr, damit noch alles rechtzeitig weggeschickt werden kann. Es ist ein seltsames Gefühl, jetzt schon zu wissen, was in den kommenden Tagen mit einer Familie passiert, die noch völlig ahnungslos ist, was auf sie zukommt. Aber es ist auch ein gutes Gefühl zu wissen, dass man versuchen kann, zu helfen. Mit diesem Antrag schaffen wir es hoffentlich, dass der kleine Junge endlich wieder zurück zu seiner Mutter kann, der er völlig ungerechtfertigt entrissen wurde.
Wie schnell es passiert, dass ein falsches Bild entsteht, weil jemand nicht richtig hinsieht, einen falschen Eindruck hat oder einfach bewusst Lügen erzählt, um ein Ziel zu erreichen. Und daraus entstehen solche menschlichen Tragödien, die man sonst nur aus Filmen kennt. Ich hoffe wirklich, dass diese Mutter nicht mehr viele Wochenenden ohne ihr Kind verbringen muss.
„Alle Anträge sind weg, ich mache dann jetzt Feierabend.“ „Gut, dann wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende. Haben Sie etwas Schönes vor? Ach sagen Sie, hatten Sie nicht diese Woche das Vorstellungsgespräch? Wie ist das eigentlich gelaufen?“ „Also“, ich mache eine Pause, weil ich nicht weiß, ob und wie ich ihr dieses Erlebnis erzählen möchte. Frau Dr. Holst wäre völlig entsetzt und würde darauf bestehen, dass ich diesen Anwalt anzeige. Aber solange ich mir selbst nicht sicher bin, ob ich das tun möchte, erspare ich uns dieses Thema lieber. „Erzähle ich Ihnen vielleicht mal in Ruhe, aber auf jeden Fall ist das kein Mensch, mit dem ich zusammenarbeiten möchte.“ „Schade, na dann schönen Feierabend.“ Ich bin wirklich froh, dass sie nicht weiter nachgefragt hat.
Als ich rauskomme, merke ich erst, wie schön das Wetter geworden ist. Blauer Himmel, richtig warm ist es. Vielleicht können wir nach dem Kino sogar noch irgendwo draußen sitzen und etwas trinken. Ehe ich mich versehe, sitzen die Kinder schon mit gepackten Taschen in Pauls schickem BMW und sehen mich mit gemischten Gefühlen an. „Ich wünsche euch ein ganz tolles Wochenende. Ihr werdet bestimmt viel Spaß haben“, höre ich mich sagen und wünsche mir, dass sie nicht wieder vor dem Fernseher geparkt werden, sondern wirklich etwas mit ihrem Papa machen können. „Und wenn wir Dich vermissen?“ Oh nein, es zerreißt mir das Herz und ich darf es mir nicht anmerken lassen. „Dann denkt ihr an mich und ich schicke euch einen Gedanken zurück! Aber dazu werdet ihr gar keine Zeit haben. Viel Spaß euch Dreien!“ Ich winke noch, bis der Wagen um die Ecke verschwunden ist. Dann hole ich erst einmal tief Luft.
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