Ich bin froh, dass meine Chefin so kompetent ist und ich mit dem Gefühl dort arbeiten kann, dass den Menschen auf bestmögliche Weise geholfen wird. Und ich bin natürlich gespannt auf die Geschichte des jungen Mannes, die ich ungefähr eine Stunde später dann auf meinem Diktiergerät abhöre und niederschreibe. Grundsätzlich glaube ich ja immer an das Gute im Menschen und dass es für alles eine Lösung gibt. Aber manchmal – und so ein Tag ist heute – muss ich während des Schreibens kurz innehalten und tief durchatmen. Wie sollte man nicht verzweifelt sein, wenn man eine kleine Tochter hat, die man über alles liebt und nicht alleine lassen möchte. Mit einer Mutter, die handgreiflich wird, wenn sie überfordert ist. Und die man immer noch liebt.
Ich schreibe und schreibe und die Gedanken schwirren nur so durch meinen Kopf. Da klingelt schon wieder das Telefon und so bleibt für den Augenblick kein Raum mehr für Grübeleien, die Arbeit muss schließlich weiterlaufen. Der Vormittag vergeht wie im Flug. Ich muss sehen, dass ich pünktlich hier rauskomme, damit ich nicht zu spät zum Vorstellungsgespräch komme. Am besten ich erinnere meine Chefin nochmal, damit auch alles klappt: „Ich habe ja heute mein Vorstellungsgespräch und muss relativ pünktlich gehen. Ist denn noch etwas Wichtiges zu erledigen?“, frage ich vorsichtig. Sie hat es lieber, wenn man noch etwas Luft hat, um alles zu Ende zu bringen, aber das hätte ich auch gerne. Geht aber nicht immer.
Zugegeben, sie hat zu Hause eine Haushaltshilfe und einen Gärtner. Da kann man beruhigt mal ein paar Überstunden machen und sich dann an den gedeckten Tisch setzen nach getaner Arbeit. Das sieht aber bei mir etwas anders aus. Und ich bin auf diesen Zusatzjob angewiesen. Aber leider muss sie ja als Chefin einverstanden sein. Wie heißt die Formulierung im Arbeitsvertrag: „Nebenbeschäftigungen müssen genehmigt werden und dürfen nicht zu Lasten der Arbeit gehen.“ Naja, jedenfalls so ähnlich.
„Schaffen Sie denn alle Schriftsätze bis dahin?“, kommt prompt die Gegenfrage. „Wenn ich die Unterlagen für´s Gericht noch vorbereiten soll, dann müsste ich den letzten Schriftsatz morgen machen. Dann kann ich aber länger bleiben. Ist kein Problem.“ „Na gut“, antwortet sie zähneknirschend. Begeisterung sieht anders aus. Kann ich aber nicht ändern. „Sagen Sie, wie heißt die Kanzlei nochmal, wo Sie sich vorstellen?“, möchte Frau Dr. Holst wissen. „Wolf und Partner“, antworte ich, „scheint eine ganz kleine Kanzlei in Bonn zu sein, die sind nicht mal im Internet.“ „Von denen habe ich auch noch nie gehört. Dann bin ich gespannt, wie es läuft. Viel Glück. Bis morgen früh.“ „Danke! Ich bin auch gespannt.“
Mit diesen Worten eile ich zurück an meinen Schreibtisch und überschlage mich, um noch alles fertigzumachen – hoffentlich vergesse ich in der Eile nichts Wichtiges. Dann flitze ich schnell in die Gästetoilette, um mein zwischenzeitlich versagendes Deo etwas aufzufrischen und einen dezenten Lippenstift aufzulegen. Schließlich soll der gute Herr Wolf mir direkt ansehen, dass ich nicht nur zwei Kinder und zwei Jobs locker organisieren kann, sondern dabei auch noch Wert auf mein Äußeres lege. Ich bin ja schließlich in der Blüte meines Lebens, oder?!
Ich fühle mich tatsächlich so, als ob ich heute jeden Job bekommen könnte, und freue mich richtig auf den Termin. Ein kleines bisschen nervös bin ich zwar, aber das gehört ja dazu. Allerdings werde ich noch nervöser, als ich diese Kanzlei einfach nicht finden kann. Ich beschließe, vor dem Café zu parken, das in der angegebenen Straße ist und mich zu Fuß weiter auf die Suche zu machen. Der Hausnummer nach zu urteilen, müsste es gleich gegenüber sein, aber ich finde gar kein Schild. Mal sehen, was auf den Klingeln steht. Tatsächlich, im zweiten Stock steht: Wolf und Partner auf der Klingel. Ist schon seltsam, dass diese Kanzlei es gar nicht nötig zu haben scheint, mit einem richtigen Schild auf sich aufmerksam zu machen. Nun gut, schauen wir einfach mal, wie es drinnen aussieht.
Schon nach kurzem Klingeln summt der Türöffner und ich betrete den Hausflur. Oje, das sieht genau so einladend aus wie die Haustüre. Je höher ich steige, desto mehr zieht sich mein Magen zusammen. Die Graffitis an den Wänden und der Geruch nach Urin passen überhaupt nicht zu meiner Vorstellung von Geschäftsräumen. Aber keine voreiligen Schlüsse ziehen. Ich versuche, weiterhin mein offenes, freundliches Gesicht zu behalten und gehe Stufe für Stufe das Treppenhaus hinauf. Die Beklemmung nimmt ihren Höhepunkt, als ich im zweiten Stock ankomme und sehe, wer mir die Türe geöffnet hat.
Soll ich meinem Instinkt folgen und auf dem Absatz kehrt machen? Am liebsten würde ich die Treppe gleich wieder hinunterrennen. Aber hey, was habe ich zu verlieren. Es schadet nicht, Übung in Vorstellungsgesprächen zu bekommen. Mit dieser Einstellung betrete ich die nach Zigarettenqualm und vergammeltem Essen stinkende „Kanzlei“, die eine normale Wohnung mit einem heruntergekommenen Arbeitszimmer ist. Herr Wolf ist genauso einladend wie seine Kanzlei. Ein ungepflegter, untersetzter Mann Mitte Fünfzig. Als er mich hereinbittet, bleibt er so in der Türe stehen, dass ich mich geschickt an ihm vorbeihangeln und dabei seinen verschwitzten Körpergeruch direkt einatmen muss.
Oh mein Gott, mir ist so übel. Ich beschließe, der Form halber kurze Zeit zu bleiben, um schnellstmöglich herausbekommen, was man als Aushilfskraft in einer Kanzlei verdienen kann. Und dann werde ich mich geschickt mit der Vortäuschung eines weiteren Termins aus dem Staub machen.
„Nehmen Sie Platz, Fräulein Sommer!“, sagt er selbstgefällig. „Frau!“, verbessere ich ihn. „Oh gerne, wie Sie möchten, Frau Sommer!“ Was ist denn das für ein Unterton? Ich muss mich echt zusammenreißen. Der Stuhl, den er vor seinem Schreibtisch vorbereitet hat, sagt schon alles über unser zukünftiges Verhältnis aus: Ich sitze sehr tief unter ihm und er schaut auf mich herab. „ Nicht mit mir! “, denke ich und versuche durch meine Sitz- und Körperhaltung genau das auch rüberzubringen.
Er beschreibt ein wenig den Arbeitsplatz und spult das übliche Procedere eines Vorstellungsgespräches ab. Endlich kommt der Punkt, an dem ich an der Reihe bin und meine Fragen stellen kann. „Wie wären denn meine Arbeitszeiten?“, möchte ich gerne wissen. „Jeden Tag 4 Stunden. Am besten nachmittags, weil vormittags ist Frau Grubner hier.“ „Aber ich dachte, es handelt sich um eine Aushilfsstelle auf 400,-- Euro-Basis“, frage ich leicht verwirrt nach. „Ja, genau!“
Moment mal, habe ich jetzt ein mathematisches Problem oder bietet mir dieser Rechtsanwalt tatsächlich an, für € 5,00 die Stunde zu arbeiten? Sein Gesicht sagt mir, dass er es wirklich ernst meint. Das schlägt dem Fass den Boden aus. Dass der sich das überhaupt traut, unter diesen Bedingungen. Die Gedanken schießen mir durch den Kopf und ich überlege, wie ich jetzt hier ohne mein Gesicht zu verlieren hinauskomme.
„Wissen Sie Herr Wolf. So viele Stunden kann ich bei Ihnen gar nicht arbeiten, um auf das Gehalt zu kommen, das ich benötige, um meine Kinder zu versorgen.“ Mit diesen Worten will ich aufstehen und gehen. Doch Herr Wolf lenkt ein. „Einen Moment noch.“ Er lehnt sich zurück in seinem bequemen, gepolsterten Ledersessel. „Es gibt da noch eine andere Möglichkeit.“ Er macht eine kurze Pause und mich neugierig. „Sie könnten den dreifachen Stundenlohn verdienen mit einer anderen Beschäftigung.“ Ich warte ab, ob er fortfährt. Doch er macht wieder eine Pause, als wollte er, dass ich errate, worum es sich handelt. Aber ich habe keinen Schimmer, worauf er hinaus will.
Bis er anfängt, an seiner Hose zu nesteln und den Knopf zu öffnen. Da erahne ich, was dort hinaus will. Das kann nicht sein, das ist ein schlechter Traum. Nein, ist es nicht, er öffnet genüsslich den Reißverschluss seiner Hose und sieht mir geradewegs ins Gesicht, die Augen schon ganz glasig. Das kann er nicht bringen. Oh mein Gott, er packt tatsächlich sein bestes Stück an und holt es nach draußen. „Wie wär´s, Sie können direkt mit der Probearbeit beginnen!“ Völlig außer mir sitze ich da und schnappe nach Luft. Angeekelt von diesem schlabberigen Gehänge wende ich den Blick ab und kann mich endlich wieder aus der Schockstarre befreien.
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