Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf und stürme hinaus in den Hausflur. Hoffentlich finde ich in dieser Panik die Haustüre wieder. Plötzlich fährt mir ein neuer Schrecken in die Glieder: Was, wenn er – ohne dass ich es bemerkt habe – die Kanzleitüre abgeschlossen hat. Ich drücke schnell die Klinke herunter und – nichts. Mir bleibt fast das Herz stehen, die Türe lässt sich nicht öffnen. Mein Puls steigt auf 180 und ich versuche mit aller Kraft noch einmal die Türe zu öffnen und - Gott sei Dank, sie hat nur geklemmt. Ich stürze die Treppe herunter, bis ich draußen auf der Straße stehe. Ich weiß gar nicht, wo ich hin soll, mein Adrenalinspiegel ist so hoch, dass ich mich jetzt auf gar keinen Fall ins Auto setzen kann. Aber hier will ich auch nicht bleiben.
Kurzerhand eile ich in das Café und setze mich in die hinterste Ecke. Was ich jetzt brauche, ist ein ganz starker Kaffee, besser noch einen Schnaps. Ich bin so in Gedanken, dass ich gar nicht mitbekomme, wie ein netter junger Mann am Nebentisch mich amüsiert anlächelt. „Sie sehen aus, als hätten Sie gerade ein Gespenst gesehen!“, sagt er freundlich. „Das wäre mir viel lieber gewesen, das können Sie mir glauben!“, entfährt es mir spontan. Er lacht laut, und kleine Grübchen blitzen in seinen Mundwinkeln auf. Hey, der ist ja richtig attraktiv. Und noch nett dazu. Doch er scheint auf jemanden zu warten, denn auf dem Stuhl neben ihm liegt ein riesiger Strauß gelber Rosen. Als die Bedienung mir meinen Kaffee bringt, sieht er auf seine Uhr und sagt: „Ich möchte gerne zahlen.“
Bevor er geht, nimmt er eine einzelne Rose aus dem Strauß und übergibt sie mir mit den Worten: „Nicht verzweifeln, wir sind nicht alle so!“, und verschwindet lächelnd aus dem Café.
Auf der Fahrt nach Hause gehen mir immer wieder die Bilder des Gehänges durch den Kopf. Ich bin so sauer, dass mir erst jetzt die ganzen coolen Sprüche einfallen, die ich ihm gerne an den Kopf geworfen hätte. Ich bin gespannt, was Lissy dazu sagt. Sie hätte bestimmt den richtigen Spruch parat gehabt.
„Na, hast Du den Job?“ Lissy erwartet mich schon mit einem Latte Macchiato. „Ähm, ich könnte ihn haben, muss aber nochmal drüber schlafen. Wo sind denn die Kinder?“ Lissy sieht mich stirnrunzelnd an. „Mit Brutus auf der Wiese hinten.“ „Oh gut, dann erzähle ich Dir jetzt mal, wie man sein Gehalt deutlich aufbessern kann.“ Wie erwartet kriegt Lissy sich gar nicht mehr ein vor lauter Lachen. „Schade, dass ich nicht da war, dem hätte ich was erzählt. Was meinst Du, soll ich auch mal einen Vorstellungstermin vereinbaren und mir das aus nächster Nähe ansehen?“ Die Vorstellung gefällt mir gut. „Aber dann musst Du eine Kamera zur Hand haben und das Ganze auch festhalten.“ So langsam entspanne ich mich und mein Blutdruck normalisiert sich etwas. Eigentlich müsste man darüber nachdenken, so jemanden anzuzeigen. Das werde ich mir nochmal in Ruhe überlegen.
„Ich freue mich richtig auf ein gemütliches Abendessen mit den Kindern“, denke ich laut. „OK, das ist mein Stichwort, ich mach mich jetzt auch vom Acker, bin heute Abend zum Essen eingeladen“, strahlt Lissy mich an. „Ich sag den Kindern noch Tschüss und schicke sie dann rein, ja? Und wenn sie mal am Wochenende beim Blödmann sind, dann machen wir zwei uns einen richtigen Mädelsabend, was meinst Du?“ „Ja, das hört sich gut an. Das machen wir auf jeden Fall.“
Ich beschließe, in unserem kleinen Garten auf der Rückseite des Hauses zu essen. Schön, dass wir hier so ganz ungestört sein können, wenn wir es möchten. Und ich glaube, das brauchen wir heute ganz dringend. Montags ist so ziemlich der einzige Tag in der Woche, wo wir keine Termine wie Fußballtraining, Ergotherapie oder ähnliches haben, so dass ich nach den turbulenten Wochen froh um jede Gelegenheit bin, den Stresspegel herunterfahren zu können.
Als die Jungs hereinstürmen, schreien sie sofort nach Essen. „Was sollen wir denn heute Abend essen?“, frage ich die Jungs. „Ravioli!“, „Pizza!“, „Reibekuchen!“, kommt es wild durcheinander bei mir an. „Eins davon ist OK, dann müsst ihr euch aber einig werden und es gibt wenigstens noch etwas Gesundes dazu.“ Wir einigen uns schließlich auf Pizza und Rohkost. „Wenn ihr mir helft, können wir im Garten picknicken“, schlage ich vor. „Megageil!“, ruft Tommy und rennt sofort in die Küche. Oh mein Gott, er ist fünf. Woher hat er diesen Wortschatz bloß?
Ben kommt zu mir und drückt sich an mich. „Danke Mama“, sagt er leise. „Wofür denn Benny?“, frage ich. „Für das Picknick und überhaupt, für alles.“ Ich merke, dass mir Tränen in die Augen schießen und versuche mich zu beherrschen. „Ach Benny! Das mache ich doch gerne und du weißt, ihr beide seid das Wichtigste in meinem Leben. Ich möchte einfach nur, dass es Euch gut geht. Hast Du Lust, später noch etwas mit mir alleine zu machen, wenn ich Tom ins Bett gebracht habe?“ „Mmmh“, höre ich nur. Sein Gesicht ist immer noch fest an meinen Körper gedrückt. Ich schließe die Augen, nehme ihn fest in meine Arme und genieße den Moment.
Als er seine Umarmung langsam löst, sehe ich ihm in die blauen, etwas traurigen Augen und sage: „Überleg Dir schon mal, wozu Du Lust hättest, ja? Schiebst Du jetzt die Pizza in den Ofen?“ Sein Gesicht hellt sich etwas auf. „OK“, sagt er und so machen wir uns auf den Weg zu Tom. Der versucht ganz angestrengt, auf einem Stuhl an der Arbeitsplatte stehend, mit dem Sparschäler ordentliche Streifen der Gurkenschale zu entfernen. Als die Pizza im Ofen ist, breitet Ben eine große Decke auf der Wiese aus. Wie schön es ist, hier im Garten die letzten Sonnenstrahlen des Tages noch einfangen zu können. Ich freue mich selbst wie ein kleines Kind auf dieses Picknick. Tief in mir drin ist immer noch ein Stück Kind und ich wünsche mir, dass das auch so bleibt und mir dieses Geschenk der Unbeschwertheit nie verloren geht. So selten diese Momente auch sein mögen. Schnell ertönt das Piepen des Backofens und wir tragen das Essen hinaus auf die Decke.
„So, wie war denn Euer Tag?“, frage ich die Jungs. Tom sprudelt als erster wie aus der Pistole geschossen los. „Der Julius war total gemein, der hat mir meinen Lego-Turm kaputtgetreten. Und dann hat er auch noch gelogen und gesagt, er war es gar nicht. Dabei hab ich es genau gesehen.“ „Und was hast Du dann gemacht?“, will ich wissen. „Bestimmt geheult“, sagt Ben, noch bevor Tom antworten kann. Ich stupse Ben an. „Gar nicht, ich bin doch keine Heulsuse. Aber die Frau Straubitz hat das gesehen und hat gesagt, er muss mir helfen, den Turm wieder aufzubauen.“ „Das finde ich gut.“ „Nö, überhaupt nicht, ich bau doch nicht mit dem Julius zusammen einen Turm.“
Er erzählt aufgeregt weiter, während Ben sich einen Ball besorgt hat und „hochhalten“ übt – natürlich neben der Picknickdecke. Wie nicht anders zu erwarten gibt es plötzlich ein Geschepper und die Becher mit der Apfelschorle fliegen durch die Gegend. „Benny, kannst Du nicht mal 5 Minuten den Ball liegen lassen?“, rufe ich sauer. Auch wenn ich weiß, dass er es nicht mit Absicht gemacht hat, ist meine Geduld manchmal echt überstrapaziert. Ich konfisziere den Ball und lasse mich mit einem Stück Möhre in der Hand auf die Decke fallen. Sofort legen die beiden sich neben mich und wir sehen in die dicken Cumuluswolken am blauen Himmel.
„Was siehst Du?“, frage ich Ben. Es dauert einen Augenblick, bevor er antwortet. „Einen fliegenden Drachen.“ Tom drückt sich enger an seinen Bruder. „Ja, ich sehe ihn auch. Der hat ein ganz großes Maul, siehst Du? Sieht ein bisschen gruselig aus.“ Ben muss schmunzeln und nimmt seinen Bruder in den Arm. „Nein, der ist nicht gefährlich. Der verjagt nur alles Böse und passt auf uns auf.“ „Echt?“, fragt Tom erstaunt. „Na klar.“ Zufrieden entspannt sich Tom in seinem Arm. „Ich sehe ein Kaninchen mit einem großen Kochlöffel in der Hand.“ „Ja“, rufen beide direkt aus. „Ich glaube, der hat Spaghetti gekocht, guck mal, da hängt noch eine Nudel dran“, setzt Tom noch einen drauf. So verbringen wir eine ganze Zeit lang lachend und entspannt auf der Wiese und genießen den Luxus, einfach die Zeit und die Wolken vorüberziehen zu lassen.
Читать дальше