„Na toll, darauf hätten Sie uns aber auch etwas früher vorbereiten können.“ Sam rieb sich den schmerzenden Knöchel und stöhnte.
„Ich bedauere den Vorfall außerordentlich."
„Aber Sie sagten, wenn er mich gesehen hätte, wäre er mir ausgewichen. Kann er denn sehen und etwas entscheiden?“
„Ja und nein. Sehen Sie, die Figuren werden durch eine sehr komplexe Computermatrix gesteuert, deren Subroutinen eine zufällige, aber im Sinne der Handlung zielgerichtete und sinnvolle Aktion gestattet. Beispielsweise kann er ihre Anwesenheit und ihre Bewegungen durch den veränderten Luftdruck wahrnehmen - natürlich nicht er direkt, sondern der Computer.“
„Soll das heißen, dieses ... dieses Ding da - oder was auch immer - hätte mich auch umbringen können?“
„Auf gar keinen Fall.“
Parneck fühlte sich nun verpflichtet, die technischen Hintergründe doch noch etwas näher zu erläutern, auch, um Calaprese gegenüber keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. „Der Computer folgt bei der Steuerung der Holo-Charaktere den drei grundlegenden Robotergesetzen von Isaak Asimov.“
Sam fragte dazwischen: „Das ist doch der Science-Fiction-Autor aus den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts?“ Sie kannte Asimov, obgleich Science Fiction nicht ganz ihr literarisches Genre war.
„Ja, aber die von ihm formulierten Prämissen und Regeln waren so gut durchdacht, dass sie bis heute nicht verbessert zu werden brauchten. Ein Roboter - in unserem Fall besser gesagt eine Holo-Figur - darf keinem menschlichen Leben willentlich Schaden zufügen oder durch Untätigkeit gestatten, dass ihm Schaden zugefügt wird. Der Mönch hätte Sie also nie absichtlich angerempelt oder gar verletzt. Das zweite Gesetz verpflichtet ihn, jeden Befehl eines Menschen auszuführen, es sei denn, dieser Befehl kollidiert mit dem ersten Gesetz.“
„Moment mal“, fragte Sam, „heißt das, ich hätte dem komischen Mönch auch sagen können, er soll mit mir Tango tanzen oder sonst noch was - und er hätte es getan?“
Parneck war froh, dass Sam wenigstens ansatzweise ihren Humor wiedergefunden hatte. „Nicht ganz, wir haben Asimov hier ein wenig modifiziert, der Mönch würde nur Handlungen ausführen, die zur Situation passen und in den betreffenden Subroutinen - wir sprechen hierbei auch von den Zufallsroutinen - als handlungsfähig, das heißt auch von uns erwünscht oder zumindest nicht verboten, festgelegt wurden.“
„Also kein Tango?“
„Ich fürchte, hier nicht, vielleicht besuchen Sie hierfür mal unser Jugendstil-Haus. Das dritte Gesetz, das Asimov formuliert hat, besagt, dass ein Roboter, beziehungsweise hier eine Holo-Figur, ihre eigene Existenz schützen muss, solange sie damit nicht gegen das erste Gesetz verstößt. Alle diese Gesetze haben wir integriert - wir bezeichnen sie etwas vereinfacht zusammenfassend als Gewaltsperren.“
„Ah, ich verstehe“, Sam nickte und lächelte nun ein wenig, „das heißt, ich könnte also nicht, weil ich vielleicht ein verhinderter Freizeit-Rambo bin und in ihrem Museum mein Mütchen kühlen möchte, ein paar Dutzend ihrer Mönche da drinnen niederschlagen oder mich an diesem Massenmord beteiligen?“
„Genau, das wäre nicht möglich. Wir möchten ja nicht, dass hier irgendwelche Perverse ihre Gewaltfantasien austoben. So ist es auch unmöglich, dass eine Holo-Figur umgebracht wird, sofern sie nicht das Opfer ist, oder eine Figur sich quasi aus Versehen oder gar willentlich selbst umbringt. Auch das verhindern normalerweise die Gewaltsperren. Der Computer erkennt aggressive Handlungen gegen die Figuren und verhindert sie defensiv, etwa durch Flucht, wobei den Holo-Figuren im Bedarfsfall Kräfte zur Verfügung stehen, die weit über das menschliche Leistungsvermögen hinausgehen.“
„Und wenn diese Gewaltsperren mal ausfallen?“
Parneck lächelte. „Das ist so gut wie unmöglich, die sind dreifach redundant abgesichert."
Sam war still geworden. Sie hatte noch tausend Fragen, aber der Schock wirkte nach. Sie war da nicht besonders widerstandsfähig. Das soeben Erlebte hatte sie sehr aufgewühlt. Sie war nicht wie die überzogen coolen Typen aus den Action-Filmen, die sich von einer Explosion zur nächsten hechten, sich an Dachrinnen festklammern, aus brennenden Autos springen und danach lächelnd zur Tagesordnung übergehen und so tun, als wäre überhaupt nichts gewesen.
Sie fand das Ganze hier unheimlich - aber dennoch zugleich faszinierend.
„Ich hätte noch so viele Fragen dazu, aber im Augenblick, glaube ich, reicht es uns allen“, meinte Calaprese einfühlsam mit einem Blick auf Sam, die ihn dankbar und zustimmend anlächelte, „aber ich muss auch sagen, dass mich die Vorstellung - oder ich muss wohl besser sagen, das Erlebte - stark berührt hat. Ja, tatsächlich. Die paar Minuten, in denen ich Augenzeuge war, erschienen mir wie eine Zeitreise in die Renaissance, die einem durch den starken Realitätsgrad und die Emotionalität einen Zugang verschaffte, wie ihn stundenlange Vorlesungen - ich fürchte, sogar meine - und viele dicke Lehrbücher nicht hätten bieten könnten. Man fühlte sich tatsächlich in das 15. Jahrhundert zurückversetzt. Wenn ich Sie nicht neben mir in Ihrem Anzug gesehen hätte und Signorina Merkmann mit ihrem ungewöhnlichen ...“
„Bedenken Sie“, unterbrach ihn Parneck, „dass im Normalfalle nur jeweils zwei Personen Zugang zum Szenario haben und diese auch noch zeitgeschichtlich korrekt eingekleidet werden.“
„Ich bin kein überzeugter Anhänger ihres Konzeptes geworden, verehrter Herr von Parneck, verzeihen Sie mir bitte, aber ich beginne zu verstehen, wo Ihr Ansatz liegt und ich muss zugeben, dass es ein Erlebnis der besonderen Art war. Ich werde darüber nachdenken und sicher viel zu berichten haben. Meine Bemerkung über Dungeon und Disneyland von vorhin bitte ich zu entschuldigen.“
„Vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen, mehr konnte ich im Augenblick nicht erhoffen. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen aber gerne noch die anderen Häuser ...“
„Oh, nein!“ protestierte Sam, schneller und lauter als beabsichtigt, „Mein Bedarf an Morden und Gefahren ist für heute mehr als gedeckt. Ich brauche jetzt erstmal ein heißes Bad für meinen geschundenen Luxuskörper, dazu ein paar Takte Rock’n Roll aus meinem MPC. Und - was gut wäre - eine große Packung Katzenzungen?“
„Selbstverständlich, wie Sie wünschen. Ich hoffe, Sie werden das alles nicht in allzu schlechter Erinnerung behalten. Ich weiß allerdings nicht, ob wir hier Katzenzungen ...“
„Nun, es war“, Sam versuchte, ihre linke Augenbraue ein möglichst großes Stück in die Höhe zu ziehen, was aber misslang, „faszinierend. Wenn es mir wieder besser geht, würde ich sehr gerne noch genauer über einige technische Details informiert werden - wenn das möglich wäre. Ich kann mir das alles noch nicht so richtig vorstellen.“
„Am besten besuchen Sie einmal Herrn Murr, unseren Chef-Ingenieur. Ich melde Sie gerne an. Ich bin sicher, dass er nur so darauf brennt, Ihnen all ihre Fragen zu beantworten.“ Die Art und Weise, wie Parneck den letzten Satz unbewusst betonte, ließ allerdings das genaue Gegenteil davon vermuten. Auch der Graf wirkte erschöpft, die unschöne Szene hatte ihn doch mehr mitgenommen, als er zugeben wollte und ihn plagten auch wieder starken Kopfschmerzen, was er sich jedoch vor seinen Gästen nicht anmerken ließ.
Die beiden Herren begleiteten Sam, die immer noch etwas humpelte, bis vor den Hoteleingang.
„Ich hoffe doch, wir sehen uns wieder?“ fragte Calaprese mit einem charmanten Lächeln. Parneck kam Sams Antwort zuvor und lud beide als Gäste zur Eröffnungsfeier des Museums ein.
Er würde wohl darauf verzichtet haben, wenn er die Ereignisse dieses Tages auch nur im Mindesten hätte vorhersehen können.
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