„Lorenzo!“, flüsterte Parneck nun noch leiser Sam zu, „Achten Sie auf den Mann, der eben durch das Portal kommt.“ Sie hätte ihn auch ohne den Hinweis sofort erkannt. Er trug eine knielange, reich bestickte und mit Goldapplikationen verzierte Schaube aus dunkelrotem Samt mit weiten Ärmeln, darunter ein modisch geschlitztes, schwarzes Samtwams, das einen edlen Kontrast zu der großen, doppelreihigen Goldgliederkette abgab, die um seinen Hals hing. Das schwarze, lange, an den Enden mit der Brennschere kunstvoll zu Locken gekräuselte Haar sah unter einer leuchtend roten Samtkappe hervor. Sein Gesicht war mager und eingefallen, mit fahlem Teint. Eine Schönheit war er nicht gerade. Die Nase, auffällig und scharf geschnitten, wirkte irgendwie deformiert. Jedoch strahlte er bereits aus der Ferne eine machtvolle Autorität aus, vermittelte aber gleichzeitig auch einen intellektuellen und kunstsinnigen Eindruck. Ein charismatischer Machtmensch, ein Mäzen der schönen Künste, ein Mann, den viele respektierten und bewunderten, viele aber auch hassten.
Sam fühlte sich irgendwie an Rickman erinnert.
„Neben ihm steht sein jüngerer Bruder Giuliano, achten Sie später besonders auf ihn.“ Sam sah einen jungen, lächelnden Mann mit feiner geschnittenen Gesichtszügen und einem eher unbekümmerten Wesen. Man merkte ihm an, dass die Probleme von Geschäften, Macht und Intrigen noch nicht so auf ihm lasteten, wie auf seinem älteren Bruder. Die beiden wurden von zwei jungen Männern freundschaftlich umarmt, die mit ihnen lachten und scherzten.
„Sehen Sie die beiden da?" Sam nickte. "Das sind Francesco de Pazzi und Bernardo Bandini, die Mörder. Sie umarmen die Medicis, um zu fühlen, ob sie unter den Mänteln Harnische tragen oder Waffen.“
Sam wurde erst in diesem Moment klar, dass sie in wenigen Augenblicken unmittelbare Zeugin einer Bluttat werden sollte und ihr wurde etwas weich in den Knien.
Die Kirche hatte sich inzwischen gefüllt, weit mehr als hundert Personen, schätzte Sam, waren anwesend. „Lassen Sie uns hinüber ins nördliche Seitenschiff gehen, von dort können wir alles Weitere besser beobachten“, flüsterte Parneck.
Die Medicis schritten langsam nach vorne, in die erste Reihe, begleitet von ihren Freunden und engsten Gefolgsleuten. Pazzi und Bandini nahmen schräg hinter ihnen Platz. Für die Vertreter der prominentesten Familien waren Stühle aufgestellt worden, während die anderen standen. Sam fiel erst jetzt auf, dass der Dom damals noch nicht über fest eingebaute Kirchenbänke verfügte. Die Messe begann und ein Priester in einem weißen, prunkvoll verzierten Ornat schritt langsam und würdevoll auf den Hochaltar zu. Die Gespräche waren augenblicklich verstummt und in die entstandene Stille hinein begannen vier Knaben, a-cappella einen Choral zu singen, eine Melodie, wie Sam sie schöner und anmutiger noch nie gehört hatte. Sie war wie verzaubert von den engelsgleichen Stimmen, die rein und kraftvoll durch das weite Kirchenschiff hallten, so dass sie für einen Moment ihre Umgebung völlig vergaß.
Noch bevor der Priester den Altar erreichte, sprang Francesco de Pazzi plötzlich auf und rief „Popolo e libertá. Für Volk und Freiheit!“ In seiner Hand blitzte ein kurzer, spitzer Dolch. Alles ging furchtbar schnell. Noch ehe er Lorenzo, der sich auf den Ruf hin umgewandt hatte, niederstechen konnte, fiel Giuliano dem Attentäter in den Arm und der Stoß des Dolches traf den jungen Medici mit fürchterlicher Wucht mitten ins Herz. Rotes Blut quoll über sein weißes Leinenhemd, durchtränkte sein Wams und tropfte auf den hellen Steinfußboden der Kirche. Lorenzo schrie wütend auf und packte Francesco am Arm, der die Waffe wieder aus dem zusammengesunkenen Körper herausziehen konnte und nun auf Lorenzo einstach. Er verletzte ihn, bevor die herbeigestürzten Anhänger der Medicis versuchten, Francesco zu überwältigen. Dieser hieb mit verzerrtem Gesicht in solch blinder Wut um sich, dass er sich selbst eine tiefe Wunde am Bein beibrachte. Der Boden der Kirche war vom Blut glänzend rot gefärbt. Das kostbare weiße Messgewand des Geistlichen war mit Blutspritzern übersät. Der Priester hatte sich schützend auf Lorenzo geworfen, der auch von seinen Freunden vor neuen Attacken abgeschirmt wurde, während er fassungslos auf seinen am Boden liegenden, toten Bruder starrte.
Sam, die nur wenige Meter vom Geschehen entfernt stand und alles genau beobachten konnte, war zutiefst erschüttert. Ihr wurde heiß und sie wandte sich angewidert ab.
Nun brach in der Kirche ein unbeschreiblicher Tumult aus. Die Anhänger der Medici waren über die unglaubliche Tat so entsetzt, dass sie auf der Stelle an den Mördern und ihren Helfershelfern eine Lynchjustiz vollzogen, die auch außerhalb eines Gotteshauses ihresgleichen gesucht hätte. Viele Männer trugen an ihren Gürteln kleine Zierdolche, die sie nun zur Verteidigung benutzten, andere entwanden den Angreifern ihre Waffen. Besonders die Leute aus dem Tross von Bischof Salvatis waren ihr Ziel, da man ihn als Drahtzieher der Aktion vermutete. Die Anhänger der Pazzi richteten ihrerseits unter den Verbündeten der Medici ein Blutbad an.
Einige Eingeweihte des Attentats hatten sich als Kapuzinermönche verkleidet und versuchten nun, zu fliehen. Ein Mann in einer braunen Ordenskutte, dessen Kopf völlig unter der weiten Kapuze verborgen war, taumelte von einem schweren Schlag getroffen rückwärts und prallte ziemlich heftig gegen Sam, die ihm im Weg stand. Sie verlor das Gleichgewicht, knickte mit dem Fuß um und wäre gestürzt, wenn Calaprese nicht im letzten Moment hinzugesprungen wäre und sie aufgefangen hätte. Aus dem Dunkel der Kapuze starrten sie ein paar glühende Augen fanatisch an, bevor der Mann hastig das Weite suchte.
„Kommen Sie“, rief Parneck ihnen erschrocken zu, „wir sollten jetzt vielleicht lieber gehen.“ Calaprese stützte Sam, die sich den Köchel verstaucht hatte, und gemeinsam verließen sie die Kirche durch eine kleine Pforte im Seitenschiff, die in Florenz zum Campanile hinaus geführt hätte.
Niccolo Machiavelli berichtete später in seiner „Istorie fiorentine“ im Kapitel 52, dass fast hundert Menschen an diesem Ostertag, dem 26. April des Jahres 1478, im Florentiner Dom den Tod gefunden hatten.
Draußen lehnte sich Sam gegen die Kirchenmauer. Der Schreck stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, aber sie sah Calaprese dankbar an und stützte sich auf seinen Arm. „Mein lieber Schwan“, stieß sie schwer atmend hervor, „das ist ja nicht ganz ungefährlich. Ich habe gedacht ... ich dachte ...“
Parneck war der Zwischenfall sichtlich unangenehm. „Es tut mir furchtbar Leid. Bitte entschuldigen Sie diesen unglücklichen Zwischenfall.“
„Unglücklich? Die hätten mich fast umgebracht!“
„Ganz so ist es nun nicht, Frau Merkmann, es war ein unglücklicher Zufall, dass sie genau hinter dem Mönch standen. Hätte er sie gesehen, wäre das natürlich nicht passiert.“
„Gesehen? Er hat mich angestarrt! Und er hat mich angerempelt! Wie kann er das? Wieso kann er mich sehen? Ich dachte, das ist hier wie ein 3D-Kinofilm, den ich mir in Ruhe angucken kann und vielleicht dabei was knabbern.“
„Nein, wie Ihnen leider durch dieses Missgeschick deutlich gemacht wurde, sind die Figuren interaktiv.“
„Er hat mich glatt über den Haufen gerannt! Die Kerle sind fest, hart, ach, Sie wissen schon, was ich meine! Die sind alle echt, oder wie?“
„Ja und nein. Dr. Rickman hat sich die öffentliche Bekanntgabe der technischen Details für die Eröffnungsfeier vorbehalten, aber da Sie ja gewissermaßen zum Club gehören - es ist so: Die Holo-Figuren sind nicht - wie die Holo-Figuren, die Sie beispielsweise vom Avatar ihres Computers her kennen - ausschließlich aus Licht generiert, sondern verfügen auch noch über eine feste, äußere Hülle, die mit entsprechenden Atomen strukturiert wird.“
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