Am anderen Ende legte ihr Vater ebenfalls den Hörer auf.
„Was sagt sie?“, fragte ihn seine Frau mit matter Stimme vom Sofa her, auf das sie sich inzwischen gelegt hatte.
„Sie kommt zu uns“, erwiderte er.
„Das habe ich befürchtet”, murmelte Lotte und verlangte nach einem Eisbeutel.
Philipp, der älteste Sohn und seine Frau Daisy, die eigentlich Martha hieß, saßen ratlos am Tisch.
„Um was geht es denn eigentlich hier”, fragte Daisy ihre Schwiegereltern. „Ja, das möchte ich auch wissen”, ergänzte Philipp und schaute seine Eltern fragend an.
„Du hast doch gehört, was ich Hanni erzählt habe. Ich schlage vor, den Rest besprechen wir, wenn Hanni gleich kommt, solange kümmere ich mich um Mutter.”
„Ich habe aber heute nicht viel Zeit“, warf Philipp noch muffig ein, bevor er mit seiner Frau das Zimmer verließ.
Nachdem Johanna den Hörer auf die Gabel geworfen hatte, blieb sie reglos sitzen, den Brief aus England in der Hand. Was war denn das für eine vertrackte Geschichte. Wieso hütete ihre Familie, die sie immer für bemerkenswert unspektakulär gehalten hatte, ein solches Geheimnis? Was mochte der Grund dafür sein, dass sie von dieser merkwürdigen Großmutter gar nichts wusste?
„Sie hat ihre Familie verlassen“, wiederholte Johanna murmelnd die Worte ihres Vaters, „verlassen, als meine Mutter noch ein Kind war.” Also, vor mindestens 50 Jahren, wie ungewöhnlich. Damals blieben Frauen doch bei ihren Männern, egal, wie miserabel das Leben auch sein mochte. Und ihre Großeltern hatten sicher nicht unter wirtschaftlicher Not gelitten, wie viele andere Menschen in jener Zeit. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ein solcher Schritt damals wirklich ein Skandal erster Güte gewesen sein musste, der sicher geeignet war, ihren Großvater gesellschaftlich ins Abseits zu stellen. Johanna erinnerte sich an die Prinzipientreue ihres Großvaters, an seine Sprüche von Treu und Glauben und Aufrichtigkeit, an seine Strenge allem Lockeren, Fröhlichen gegenüber, richtig “calvinistisch” hatte sie ihn gefunden - und dann so ein Skandal. Sie empfand fast so etwas wie Schadenfreude, rief sich aber dann zur Ordnung und machte sich - sehr nachdenklich und zögernd - auf, um zu ihren Eltern zu fahren.
Ihre Familie wohnte etwa 40 Kilometer außerhalb der Stadt in einem zauberhaften Tal unweit einer Talsperre. Dort lag das Hotel „Der Lerchenhof“, das seit Generationen im Besitz der Familie ihrer Mutter war. Ihre Mutter hatte das Hotel mit bewundernswerter Energie von einem ländlichen Mittelklassehotel in ein modernes Tagungszentrum verwandelt. Der Lerchenhof war in der Woche fast ständig mit Seminaren belegt, und am Wochenende fielen erholungssuchende Städter ein, welche die schöne Umgebung, das gute Essen und die Atmosphäre zu schätzen wussten.
Am schönsten war der erste Blick auf das Hotel, der sich überraschend bot, wenn man von der Hauptstraße abgebogen und eine langgezogene Kurve entlanggefahren war. Eingebettet in die Landschaft, unter hohen Bäumen, lag es weiß und majestätisch in der Sonne, umgeben von Blumenbeeten und Rasenanlagen. Der Lerchenhof war ein altes Hotel. Drei große Giebel, geschmückt mit Jugendstilornamenten und Mauervorsprüngen, erhoben sich über dem dreistöckigen Haupthaus, an dessen rechter und linker Seite je ein zweistöckiger Flügel nach hinten führte. Den modernen Teil mit den Tagungsräumen und einem Hallenschwimmbad hatte man geschickt hinter das Hotel gebaut, so dass der Eindruck eines Schmuckstückes aus der Zeit um 1900 nicht beeinträchtigt wurde. Johanna fuhr zur linken Seite hinüber und stellte ihren Wagen auf den Parkplatz in die Nähe des Haupteingangs.
Sie betrat die Hotelhalle, einen wunderschönen, großen Raum. Gegenüber dem Eingang führte eine breite Eichentreppe in das nächste Stockwerk, links waren einige Sitzgruppen angeordnet und auf der rechten Seite befnd sich die altmodische Rezeption aus dunklem Eichenholz, ein Relikt aus dem Jahr 1903. Hinter ihr saß seit vielen Jahren Carla, die Empfangssekretärin des Hotels. Johanna begrüßte sie herzlich, und wollte sich gerade mit ihr unterhalten, als ein großer, schwarzer Schatten auf sie zugestürmt kam: Max, der Familienhund. Er umkreiste sie aufgeregt, raste um die Sessel in der Halle, schmiss sich auf den Boden, sprang wieder auf und an ihr hoch und leckte ihr das Gesicht. Jedesmal, wenn ein schmerzlich vermisstes Mitglied der Familie nach einer Abwesenheit - und waren es auch nur zwei Stunden - nach Hause kam, führte Max einen regelrechten Freudentanz auf, und alle waren dann immer so gerührt, dass er anschließend eines von den Leckerli bekam, die immer bei Carla hinter der Theke standen. Max war seit vier Jahren Mitglied der Familie Oldenburg und völlig unerzogen. Ihr Vater, der die Versuche seiner Frau, einen „standesgemäßen“ Hund für das Hotel zu kaufen, regelmäßig dadurch hintertrieb, dass er von irgendwo her einen Mischling anschleppte, hatte Max als Welpen angebunden auf einer Autobahnraststätte gefunden und mit nach Hause gebracht. Der Kleine hatte die Hausherrin, in der er instinktiv wohl einen kritischen Fall witterte, mit seinen großen braunen Augen angeschaut und ihr dann die Hand abgeleckt. Damit hatte er ihr Herz gewonnen und Lotte hatte ihren Traum von einem afghanischen Hirtenhund wieder mal begraben. Allerdings war ihr damals noch nicht klargewesen, dass aus Max fast ein Neufundländer werden würde. Er wuchs und wuchs und konnte inzwischen fast jedem gerade in die Augen sehen, wenn er sich aufrichtete. Da er zwar ungehorsam, aber ganz liebevoll war, mochte sich bald niemand mehr vorstellen, Max würde nicht mehr zum Haushalt gehören. Johanna tollte ein paar Minuten mit ihm herum, gab ihm die erwarteten Hundekuchen und ging über die Hintertreppe, deren Zugang sich hinter einer unauffälligen Tür in der Wandverkleidung verbarg, hinauf in die Wohnung ihrer Eltern.
Sie wohnten im zweiten Stock unterhalb des linken Giebels, mit Blick auf die Talsperre in einer großzügigen, mit alten Möbeln ausgestatteten Wohnung. Die früheren Kinderzimmer in der Etage über der Wohnung der Eltern waren inzwischen zu Hotelzimmern umgestaltet worden, aber wenn Martin oder Johanna auf dem Lerchenhof übernachten wollten, fand sich für sie immer ein Platz. Philipp und seine Frau hatten nach dem Tod der Großeltern deren Wohnung im linken Seitenflügel übernommen, die mit der elterlichen Wohnung durch einen Zugang verbunden war. Johanna liebte dieses wunderschöne alte Haus mit seinen vielen verwinkelten Gängen, Treppen und Nischen. Dennoch war sie froh, in ihrer kleinen behaglichen Behausung in der Stadt leben zu können, hier war alles immer so groß und - ja öffentlich - gewesen. Ständig stand der Oberkellner oder die Köchin in der Wohnung, die Sekretärin hatte Probleme oder ein Gast verirrte sich dorthin, weil er das deutliche Schild „Privat“ versehentlich oder absichtlich überlesen hatte. Es war überhaupt erstaunlich, wie sehr die Hotelgäste, insbesondere die Stammgäste, am Leben der Hoteleigentümer interessiert waren. Sie wollten alles wissen und nahmen regen Anteil an den Entwicklungen innerhalb der Familie. Zu der Hochzeit von Philipp und Daisy hatten sich mindestens 20 Gäste vor der Kirche eingefunden und mussten zwangsläufig zum Mittagessen eingeladen werden. Für ihren Vater war diese Betriebsamkeit auch immer ein Gräuel gewesen, und er hatte sich seine Arbeitsräume im Dachgeschoss des linken Giebels eingerichtet, das man nur über eine kleine Treppe erreichen konnte, die von seinem Schlafzimmer nach oben führte. Dorthin hatte sich auch tatsächlich noch kein Gast verirrt und die Mitarbeiter des Hauses suchten seine Gegenwart ohnehin nicht, da sie von ihm keine Entscheidung ihre Arbeit betreffend erwarten konnten.
Die Eltern sind schon ein seltsames Pärchen, dachte Johanna, als sie die Treppe hinaufging.
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