Johanna packte ihre Tasche und wandte sich ebenfalls dem Ausgang zu. Das Gericht befasste sich bereits mit der nächsten Sache und andere Anwälte saßen neben ihren Mandanten mit mehr oder weniger angespannten Gesichtern auf den harten Bänken der Gerechtigkeit.
„Das müssen wir unbedingt feiern”, sagte Wolfgang und hängte sich bei ihr ein.
„Aber nicht heute, ich habe schon was anderes vor”, erwiderte Johanna.
„Dienstlich oder privat?” fragte er, was sie ziemlich aufdringlich fand, dennoch antwortete sie kurz: „Privat.”
„Wieso, Ludwig ist doch in Hannover bei der Aufsichtsratssitzung”, sagte Wolfgang.
„Eben”, lächelte Johanna ihn an und verließ den Gerichtssaal. „Prinzessin, bist du auf Abwegen?”, fragte Wolfgang mit gerunzelter Stirn, aber sie winkte ihm nur noch freundschaftlich zu und ließ ihn stehen.
Mit dem Aufzug fuhr sie in die Tiefgarage, warf ihre Akten und ihre Robe in den Kofferraum ihres Wagens und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte eigentlich gar nichts anderes vor, als endlich mal einen halben Tag nichts zu tun, sich zu entspannen, auf ihrer Terrasse zu sitzen und ihren Träumen nachzuhängen. Aber genau das wollte sie Wolfgang nicht erzählen, er hätte es ohnehin nicht verstanden. Er gehörte - genau wie Ludwig - zu der Gruppe der “Macher”, Leute, die keine Auszeit kannten, es sei denn, sie gehörte ins Programm. Ein Dienstagnachmittag war zum Arbeiten da und für Träume nicht gedacht, die hatten Zeit bis zum Wochenende oder bis zum Urlaub. Basta. Johanna hingegen gönnte sich hin und wieder diese kleine Flucht aus dem Alltag und verheimlichte sie gerne, dann waren sie umso wertvoller.
Sie hatte ohnehin eine schwere Zeit vor sich, denn ab dem nächsten Freitag stand der traditionelle Maiurlaub an, ein Segeltörn mit Ludwigs Freunden und deren dauerhaften oder wechselnden Begleiterinnen. Johanna freute sich nicht besonders auf diesen Urlaub, denn für sie war Segeln keine Erholung, eine Erkenntnis, die sie selber überrascht hatte. Während ihres Studiums hatte sie oft neidisch den Schilderungen einer Kommilitonin gelauscht, die ihre Ferien auf der Segelyacht ihrer offensichtlich wohlhabenden Eltern verbrachte. Sie hatte dann auch von romantischen Fahrten über eine liebliche See geträumt, vor einer traumhaften Kulisse am Mittelmeer, mit stimmungsvollen Aufenthalten in pittoresken Häfen. Sie hatte sich in ihrer Vorstellung in gelbe Kissen gebettet gesehen, einen Drink in der Hand haltend und das Panorama von Monte Carlo hinter der Buglinie gelangweilt betrachtend.
Als sie dann vor Jahren von Ludwig tatsächlich auf einen Segeltörn ins Mittelmeer eingeladen worden war, wähnte sie sich am Rande der Glückseligkeit. Der Schock kam jedoch schon beim Einpacken, als Ludwig den größten Teil ihrer Kleider wieder aus dem Koffer holte und sie nach einer vergeblichen Suche in ihrem Kleiderschrank in ein Sportgeschäft schleppte. Dort sah sie sich in einen Faserpelz gehüllt, unkleidsame Troyer in Tüten verschwinden, gefolgt von Overalls aus wasserfestem Material. In diesem Moment hatte sie zum ersten Mal geahnt, dass das mit den gelben Kissen und den Drinks womöglich ein Missverständnis gewesen sein könnte. Dieser Eindruck wurde in den nächsten Wochen zur schauerlichen Gewissheit. Beim Betreten des Bootes in Bandol, einer entzückenden Hafenstadt an der französischen Mittelmeerküste, musste sie bereits erhebliche Abstriche an ihren Vorstellungen von der Größe eines Schiffes machen. Ludwigs Boot war eine 15 - Meter - Yacht, also ein durchaus geräumiges Schiff - aber die Vorstellung mit sieben weiteren Menschen drei Wochen hier verbringen zu müssen, schreckte sie ab. Dann der 24-Stunden-Schlag, so nannten das die versierten Segler, und Johanna fand diesen Ausdruck überaus passend, nach Korsika bei Windstärke 8. In ihrer Erinnerung war ihr so, als hätte sie mehr als die Hälfte der Zeit über der Reeling hängend verbracht, grün im Gesicht und weitgehend unbeachtet von den anderen, die sich lediglich noch vergewissert hatten, dass sie angeseilt war. Sie hatte Todesängste ausgestanden, ohne eine Chance zu haben, sie erwähnen zu können, sie hatte Angst vor der Tiefe und der unübersehbaren Weite des Meeres. Sie verabscheute die Enge der Kojen und hatte ständig das Gefühl, als tropfe ihr irgendwas auf den Kopf. Nachts lag sie wach und lauschte dem nervigen Geräusch Hunderter von Fallen, die unablässig an die Masten klickten. Für Ludwig war Angst vor dem Wasser ein unbekanntes Phänomen. Er schlüpfte in sein Ölzeug wie in eine zweite Haut und stand bei Wind und Wetter glückselig an der Pinne oder hinter dem Steuerrad, wo er - zugegebenermaßen - eine hervorragende Figur machte. Je härter das Wetter, desto fröhlicher wurden Ludwig und seine Freunde. Er war der festen Überzeugung, Johanna brauche sich nur zusammenzureißen, um damit zurechtzukommen. Deshalb hatte er auf ihren zaghaften Vorschlag, in diesem Jahr eine andere Art von Urlaub zu machen, mit recht wenig Verständnis reagiert.
„Du weißt, dass ich mich nur beim Segeln richtig entspannen kann, also verhalte dich bitte ein bisschen kontrollierter, wenigstens mir zuliebe“, hatte er die Diskussion abgebrochen, und sie hatte das Thema nicht mehr aufgegriffen.
Die Reise sollte in diesem Jahr von der holländischen Küste durch den Ärmelkanal zu den Scilly-Islands gehen, mit Stops auf den Kanalinseln, eine Tatsache, die Johanna ein wenig mit ihrem Schicksal versöhnte. Sie liebte diese Inseln, besonders Guernsey und freute sich auf die wenigen Tage, die sie dort verbringen konnte. Das einzige, was sie überhaupt schön am Segeln fand, waren die Abende in den kleinen Häfen, in denen man vom Boot aus eine ganz andere Perspektive genoss. Nach einem langen Segeltag abends in einen Hafen einzulaufen und dort erschöpft an Deck zu sitzen, gemeinsam ein Glas Wein zu trinken und den Sonnenuntergang zu beobachten, das war schon ein tolles Erlebnis und versöhnte sie ein wenig.
Johanna fädelte sich langsam in den Verkehr ein, der zu dieser Mittagsstunde noch sehr moderat war. Sie freute sich auf ihr Heim, ein kleines Haus in einem grünen Viertel, das sie mit ihrem jüngeren Bruder Martin bewohnte. Es hatte ihren verstorbenen Großeltern, den Eltern ihres Vaters, gehört. Nach deren Tod hatte ihr Vater vor der Entscheidung gestanden, das Haus zu verkaufen. Irgendwie hatte er sich nicht entschließen können, sich von dem Haus seiner Kindheit zu trennen und die Entscheidung so lange hinausgezögert, bis seine Tochter begann, in der Stadt zu studieren. Da gab es dann plötzlich einen Grund, das Haus zu behalten, und als ein Jahr später der jüngere Sohn Martin ebenfalls ein Studium begann und zu Johanna in das Haus zog, wurde über einen Verkauf nicht mehr geredet. Die beiden hatten sich das Anwesen im Laufe der Jahre stückweise nach ihren Bedürfnissen umgebaut und hingen sehr daran. Manchmal fragte sich Johanna, ob sie wohl mit der betonten Gemütlichkeit ihres Umfeldes das Fehlen von Geborgenheit in ihrer gemeinsamen Kindheit zu kompensieren versuchten.
Das Leben mit Martin funktionierte sehr gut, sie kamen sich selten in die Quere. Sie lebten zusammen und doch wieder nicht, sie waren sich nahe, ohne sich zu bedrängen und respektierten streng die Privatsphäre des jeweils anderen. So hatten sie es schon als Kinder praktiziert, und so hielten sie es auch jetzt.
Johanna parkte ihren Wagen auf dem Kiesplatz vor dem Haus und schloss die Tür auf. Im Flur hinter dem Briefschlitz lag eine Menge Post, die sie erst einmal auf die Anrichte im Flur legte, weil sie ihren Kater begrüßen musste, der ihr freudig um die Beine schnurrte. Sie kraulte Othello ein bisschen und ging dann in die Küche, um die Kaffeemaschine einzuschalten. Das ganze Erdgeschoß bestand - abgesehen von einer kleinen Toilette - eigentlich nur aus einem einzigen L-förmigen Raum. Martin und sie hatten die alte Wand zwischen Küche und Wohnraum herausnehmen lassen und den früheren Eindruck von Dunkelheit und Enge beseitigt. Das Wohnzimmer war auf der Rückseite völlig verglast und eine große Schiebetür führte auf eine großzügige, mit roten Terrakottafliesen gepflasterte Terrasse, die im Schatten eines alten Kastanienbaums lag. Daneben bestand der Garten eigentlich nur noch aus ein paar Blumenbeeten, die Martin mit Geschick so angelegt hatte, dass es dort fast das ganze Jahr blühte.
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