Der erste Brief war mittlerweile in meiner rechten Hand angelangt, und ich begutachtete ihn äußerst misstrauisch. Einen Brief zu erhalten bedeutete für mich ganz selten etwas Gutes. Meistens bekam ich ja nur Rechnungen, tonnenweise Werbung oder sonstigen Unrat geschickt. Nette Freunde, die mir etwas Freundliches zu Schreiben hatten, gab es kaum noch, Einladungen zu witzigen Feten demnach auch nicht. Abgesehen von den obligatorischen Einladungen die Arthur Daily bei jeder Art von wichtigen und unwichtigen Empfängen erhielt. Dieser Brief hatte etwas amtlich-energisches an sich, das erkannte ich sofort. „Meine Güte, hoffentlich nicht wieder eine Anzeige“, dachte ich laut und versuchte im Kopf die Anzahl meiner fragwürdigen Aktionen der letzten Zeit abzuschätzen und sie in eine zeitliche Abfolge zu bringen. Man hält es einfach nicht für möglich wie viele unlustige Leute es doch gibt. Ich bekam in kontinuierlichen Abständen und in vollkommener Regelmäßigkeit Anzeigen von allen möglichen Menschen zugesandt. Meine bloße Existenz bewahrte, meiner persönlichen Einschätzung nach, Generationen von Anwälten vor dem Hungertod. Und es ging auch das Gerücht umher, dass Professoren an juristischen Fakultäten, gefragt nach den beruflichen Möglichkeiten ihrer Absolventen, stets diese ermutigende Antwort gaben:
„Solange es Arthur Daily gibt, gibt es auch etwas zu verklagen.“ Noch bösere Zungen vertraten gar die Ansicht, eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Studenten hätte sogar den eingeschlagenen Weg Mediziner oder Ingenieur zu werden abgebrochen, um sich der Jura zu verschreiben. Die Aussicht mich eines Tages verklagen zu können, erschien ihnen angeblich als eine sicherere Lebensgrundlage, als das verarzten körperlicher sowie seelischer Wunden, oder als das Errichten von Brücken, Straßen und Häusern. Ob davon etwas stimmte kann ich nicht sagen, die statistische Anzahl der eingeschriebenen Jurastudenten jedenfalls stieg an, und natürlich machte ich mir neurotisch einen eigenen Reim darauf. Denn verklagt wurde ich tatsächlich laufend. Beleidigungen und Obszönitäten waren wohl die häufigsten Grund dafür weitere Anwälten zu Lohn und Brot zu bringen, dicht gefolgt von Sachbeschädigungen und sonstigem Schabernack. Dazwischen rangierten irgendwo die Anzeigen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, die wiederum stark von meiner Laune abhängig waren. Den Rest stufte ich als harmloses „verklag mal wieder Arthur Daily“ ein.
James musste sogar einen Anwalt einstellen, dessen Aufgabe nur darin bestand gegen diese Verfahren Einspruch zu erheben. Er widersprach häufig, und er versäumte es nie mir zum Geburtstag eine Karte zu schreiben und mir stets viel Erfolg zu wünschen. Ob er damit mein künstlerisches Schaffen meinte, oder den Unfug den ich verzapfte konnte ich jedoch nie genau in Erfahrung bringen. Jedenfalls wurde er einer meiner glühendsten Verehrer, und so ganz nebenbei wurde er auch stolzer Eigentümer einer schönen Villa und Besitzer eines tollen Porsche Carrera.
Der Brief in meiner Hand erntete also einen skeptischen und bösen Blick, repräsentativ für alle bösen Briefe die ich jemals erhalten hatte. Der maschinell aufgedruckte Absender war gänzlich unleserlich, und der Poststempel war ziemlich verschwommen und auch nicht sauber aufgetragen. Doch ich erkannte sofort, dass er aus Deutschland kam, genauer gesagt aus meiner Heimatstadt Saarlouis.
„Hääääh??“ dachte ich und kratzte mich verwundert hinter dem rechten Ohr. Wann war ich eigentlich zuletzt zuhause gewesen, und wem konnte ich dort auf die Füße gestiegen sein? Das war jedenfalls mindestens ein ganzes Jahr her, wenn nicht noch länger. Fragen über Fragen, und es gab nur zwei Möglichkeiten damit fertig zu werden. Entweder ich konnte den Brief mitsamt dem fragwürdigen Inhalt verbrennen und seine Existenz bis hin zur Nichtexistenz ignorieren. Oder ich musste ihn eben öffnen und nachsehen, egal welche Katastrophe er für mich bereithielt. Weil ich ein verantwortungsbewusster Mensch war, oder einfach nur aus weibischer Neugier heraus entschied ich mich für dafür, mich mutig dem Brief zu stellen. Der Inhalt des Briefes brachte zwar keine befürchtete, ultimative Boshaftigkeit zutage, entlockte mir dennoch ein weiteres...
„Hääääh?“ Es war keine Anzeige, das war gut. Es war aber eine Rechnung, das war logischerweise die Alternative und somit war das schlecht. Der Betrag war nicht sehr hoch, das war wiederum gut, doch es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, was wieder schlecht war.
Die Stadtwerke Saarlouis hatten mir geschrieben. Genau genommen wurde der Brief an Johannes Becker, mein früheres „Ich“, geschickt. Eine scheinbar harmlose Rechnung über Strom, über Strom den ich gar nicht verbraten haben konnte, weil ich gar nicht in Saarlouis war. Zwar hatte ich bei den Saarlouiser Stadtwerken und bei dem Postamt meine jeweils aktuelle Nachsendeadresse mitgeteilt, was wenigsten eine Erklärung bot, warum mich diese Rechnung überhaupt erreichen konnte. Aber der Betrag war deutlich höher, als die Grundgebühren, die lediglich zu entrichten sein müssten, und der Zeitpunkt dafür war auch nicht der Richtige. Ich fing an zu grübeln. Möglicherweise hatte ich bei meinem letzten Besuch das Licht brennen lassen, oder der Fernseher lieferte gerade eine rekordverdächtige Marathonsendung ab; ein Jahr bunte Bilder für niemanden. Doch so einfach konnte die Erklärung für diese Rechnung auch nicht sein, sonst wären ja bereits schon früher erhöhte Rechnungen erschienen, aber das war nicht der Fall gewesen.
Meine Verwirrung steigerte sich erheblich, als ich auch den zweiten Brief geöffnet hatte. Auch hier handelte es sich um eine Rechnung, mitsamt einer Lieferscheinkopie aus einem Musikhaus. Und sie stammte ebenfalls aus Saarlouis. Nur konnte ich hier überhaupt keine Zusammenhänge mehr erkennen. Es war eine Rechnung über die Reparatur einer alten Geige, und Johannes Becker war Rechnungsempfänger, sogar meine Adresse in Saarlouis stimmte. Das musste eine Verwechselung sein. Ich kannte den besagten Musiklanden in Saarlouis am großen Markt, den gab es schon eine Ewigkeit. Manchmal schaute ich dort hinein, wenn ich auf dem Weg ins Kino war. Die strahlenden und funkelnden Instrumente ließen mich immer ins Schwärmen geraten. Oft pickte ich mir ein besonders tolles Stück aus der Schaufensterware heraus und sah mich damit als Rockstar auf einer Bühne arbeiten. Meist war es natürlich eine E-Gitarre, manchmal aber auch ein glänzendes Saxophon, mit dem ich eine riesige Schar von Fans in meinen Bann zog. Selbstverständlich waren Tauende davon junge Frauen gewesen, die mir kreischend ihre Unterwäsche zuwarfen. Dennoch hatte ich nie ein eigenes Instrument besessen, auch wenn ich ein wenig Gitarre spielen konnte, weil Frank versucht hatte mir das beizubringen. Es scheiterte logischerweise an meiner Ungeduld, denn nach einer Woche harten Trainings war ich noch immer nicht in der Lage gewesen Eric Clapton Konkurrenz machen zu können. Das waren immer schöne Träume, so wie sie jeder kennt, aber was sollte ich denn bitteschön mit einer Geige anfangen? Wie zum Kuckuck bekommt man denn mit einer Geige ein junges Mädchen ins Bett?
Fakt war aber, dass ein gewisser Herr Becker die Reparatur einer Geige in Auftrag gegeben haben musste, die Unterschrift auf der beigefügten Auftragsbestätigung bestätigte dieses. Möglicherweise ein banales Versehen, aber in der Kundenkartei des Musikladens war ich nicht verzeichnet. Vielleicht war ja ein Betrüger am Werk, der einfach unter falschen Namen und Adresse die Zeche prellen wollte. Name und Adresse waren ja im Telefonbuch eingetragen. Ein klärendes Telefonat sollte Auskunft und Gewissheit. Ich war gerade in Begriff in Saarlouis anzurufen, wurde aber von James und Stanley abgelenkt, die zur Tür hereinkamen. Also legte ich wieder auf, vergaß den versäumten Anruf zu tätigen, und ich vergaß alsbald auch die Briefe mitsamt deren dubiosen Inhalten, die fast wie von selbst den Weg in die Mülltonne fanden und sich sehr darüber wunderten, wieso plötzlich eine einzelne Haferflocke an einem der Kuverts klebte.
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