»Davon hatte mir meine Mutter erzählt«, sagte Melanie. »Aber wir DDR-Bürger setzten uns durch. Nacktbaden wurde Privatsache und so widerstanden wir der Staatsmacht.«
»Richtig. Es wurden von Jahr zu Jahr mehr, die FKK zu ihrer Urlaubsnormalität machten.«
»Wir waren immer in Prerow, ein Zeltplatz in den Dünen, dort entwickelte sich ein kleines Paradies für Nacktbader aller Altersstufen.«
»Ich kenne Prerow, Frau Schütz. Das ist im Darß. Zwischen Warnemünde und Stralsund.«
»Stimmt. Wann waren sie da?«
»Leider erst nach der Wende. Der öffentlichen Prüderie, die sich beispielsweise in der Reglementierung von Nacktfotos in Zeitschriften zeigte, stand der private ungezwungene Umgang mit der eigenen Nacktheit gegenüber. Ein berühmter DDR-Aktfotograf war zum Beispiel Klaus Ender.«
»Klaus Ender?«
»Ja, ich habe ihn leider erst nach der Wende kennenlernen dürfen. Er wohnt mit seiner Frau auf Rügen. Ein Meister der Aktfotografie. Einige dieser Bilder hier erinnern mich an seine Werke. Der Fotograf muss ihn gekannt haben, vor allem seine Bilder. Und er hat ihn teilweise kopiert.«
»Wurden Klaus Enders Bilder denn schon zu DDR-Zeiten veröffentlicht?«, fragte Melanie.
»Ja, ja!«, antwortete Werner. »Seine Aufnahmen für die DDR-Zeitschrift „Das Magazin“ machten Klaus Ender schließlich berühmt. Im Jahr 1975 organisierte Ender die von mehr als hunderttausend DDR-Bürgern besuchte Ausstellung „Akt & Landschaft“, die die Aktfotografie in der DDR salonfähig machte und ihm auch international Beachtung einbrachte. Für Jahrzehnte wurde sie zu einem Maßstab für künstlerische Aktfotografie. Seine Fotos wurden auf internationalen Ausstellungen gezeigt, doch er selbst litt sehr darunter, nicht ins westliche Ausland reisen zu dürfen. Das hatte er mir wenigstens bei meinem Besuch gesagt. Und er arrangierte sich mit der Stasi.«
»Sie kennen sich gut aus. War Ender ein Spitzel?«
»Nein, niemals. Klaus Ender war ein großes Vorbild für uns junge Fotografen. In seinen Bildern war auch niemals etwas Anstößiges oder Unzüchtiges. Und er hat nicht nur Frauen fotografiert, ab und zu mal auch Männer. Er verehrte die Frauen. Und er fotografierte sie meistens in der Natur, nackt und natürlich.«
»Ich wusste gar nicht, dass DDR-Aktfotografie so bekannt war«, sagte Melanie überrascht.
»Ja, ja das war sie«, klärte Werner sie auf. »In der BRD war das Schmutz. Ein nackter Busen konnte einen Skandal herbeirufen. Denken Sie an Hildegard Knef, den Film „Die Sünderin“. Dieser Film mit der damals noch blutjungen Hildegard Knef in der Hauptrolle war der erste Skandal der jungen Bundesrepublik. In einer Szene war sie für Sekunden splitterfasernackt in eine Hängematte drapiert zu sehen. Die Kirche witterte die Zersetzung der sittlichen Begriffe unseres christlichen Volkes. Ein zuvor bei Kritikern und Publikum eigentlich durchgefallener Film wurde doch noch zum Kassenschlager. Und nur wegen einem nackten Busen. Das ist doch absurd. Da waren Sie in der DDR wesentlich aufgeschlossener und sexuell weiter.«
Alois hatte die ganze Zeit schweigend zugehört. Jetzt räusperte er sich und unterbrach die Geschichtsstunde in DDR-Fotografie.
»Das ist ja alles äußerst interessant, aber zurück zu unserem Fall. Also wenn die Bilder auf dem Laptop in der ehemaligen DDR aufgenommen worden sind, und wir davon ausgehen können, dass der Ermordete sie selbst gemacht, dann muss er doch wohl oder übel vor der Wende in der DDR gewohnt haben? Oder sehe ich das falsch?«
»Nein, das sehen Sie richtig. Können wir jetzt mal ins Bearbeitungsprogramm, in den Photoshop gehen, und uns die Mediadaten der Bilder anschauen? Bei den Kleinbildfilmen ist das nicht der Fall. Hier bin ich mir sicher, die Bilder stammen aus der DDR- Mecklenburg Vorpommern würde ich sagen, eine Gegend mit Schwarz-Pappeln. Ostsee passt leider nicht, denn es gibt keine Strände oder Wellen darauf zu sehen. Alle Bilder sind im Grünen aufgenommen worden. Und wenn man bei einigen Bildern ganz genau hinschaut, dann sehen Sie im Hintergrund weitere nackte Personen. Wie ich schon erwähnte, wahrscheinlich in einem FKK-Club.«
Melanie öffnete den Photoshop und alle drei suchten auf dem Rechner nach Bildinformationen. Simon Werner machte sich auf einem Blatt Notizen. Nach einiger Zeit blickte er auf seine schriftlichen Ergüsse und sagte zu den beiden Beamten: »Das ist wirklich interessant. Alle Bilder sind in den Monaten Juni bis September aufgenommen worden. In jedem Jahr hatte der Fotograf nur zwei Modelle. Angefangen hat er im Jahr 1998. Aus diesem Jahr sind die ersten digitalen Aktfotos. Die letzten sind aus dem Jahr 2012. 2013 fehlt ganz. Warum? Hat er sich zur Ruhe gesetzt? Zwangspause, Knast oder etwas in der Art? Zu alt geworden, keine Modelle mehr bekommen? Und warum diese Pausen von 1980 bis 1990 und von 1991 bis 1998? Die digitale Fotografie wurde 1990 erfunden. Von Nikon.«
»Aber sicher damals noch unbezahlbar«, sagte Alois.
»Richtig. Auch für uns Westdeutsche.«
»Hat er dann gewartet, bis die Preise sinken und er ausreichend Geld für eine gute Ausrüstung beisammen hat?«
»Schwer zu sagen. Auf jeden Fall hat er einen sehr hohen Qualitätsanspruch, egal ob mit Kleinbild oder Digital. Seine Bilder sind scharf und gut ausgeleuchtet. Die Frauen kommen sehr gut rüber.«
»Haben Sie vielleicht einige dieser Damen erkannt, vielleicht selbst schon mal vor der Linse gehabt?«, fragte Alois den Fotografen.
»Nein, leider nicht. Da bin ich mir absolut sicher. Ich denke auch, dass das keine professionellen Aktmodelle waren. Sie sind zwar alle sehr hübsch, aber sie machen mir den Eindruck, dass sie das erste Mal für solche Aufnahmen vor der Kamera standen. Und das macht gerade diesen Charme dieser Bilder aus.«
»Sie denken also, er hat sich mit seinen Bildern große Mühe gegeben.«
»Auf jeden Fall. Das sind gute Arbeiten. Die Bildinformationen sagen außerdem aus, dass er mit einer Nikon gearbeitet haben muss und vor allem mit lichtstarken Objektiven. Das kostet eine Menge Geld. Nikon-Objektive sind nicht gerade ein Schnäppchen.«
»Apropos Geld. Habt ihr herausgefunden, wo er gearbeitet hat«, fragte Alois seine Kollegin Melanie.
»Ach du meinst die beiden Firmen FCM? Und LSV? Noch keine Ahnung. Rainer ist da dran.«
»Sagten Sie gerade LSV?« Werner sah den Kommissar fragend an.
»Ja. LSV! Sagt Ihnen das etwas?«
»LSV ist unter anderem die Abkürzung für den Luftsportverein Landshut. Er hat seinen Sitz am Flugplatz Ellermühle.«
Melanie starrte den Fotografen ungläubig an. »Landshut hat einen Flugplatz? Sie wollen mich verarschen?«
»Nein, nein«, entschuldigte sich Werner, »der Verkehrslandeplatz Landshut-Ellermühle ist ein klassifizierter bayerischer Flugplatz südwestlich der Stadt Landshut. Am Flugplatz sind unter anderem zwei Flugschulen, mehrere Wartungs- und Reparaturfirmen, eine Wartungsbasis für Rettungshubschrauber und eine Fluggesellschaft untergebracht.«
»Das gibt es doch nicht.«
»Doch, doch. Ich habe dort schon Aufnahmen gemacht, für die Zeitschrift Flug Revue. Ein Portrait über diesen Platz mit all seiner Geschichte. Schon 1961 wurde der Flugplatz gegründet.«
»Wann haben Sie die Aufnahmen gemacht?«
»Vor einem halben Jahr. Der Bericht kam in der Augustausgabe, wenn ich mich nicht irre. Ich müsste zu Hause noch ein Belegexemplar haben.«
Melanie hatte begonnen sofort im Internet nach Luftsportverein Landshut zu suchen.
»Sie haben Recht. Es gibt eine eigene Homepage des Vereins. Modellflugzeuge, Motor-, Ballon- und Segelflug. Könnte passen. Sascha Krüger war ein Modellflugzeugfan. Nur was machte er dort? Auf einem richtigen Flugplatz? Als was war er dort angestellt?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Werner. »Aber wenn er dort gearbeitet hat, dann ist er sicher auch in der Flug Revue. Ich habe ein Gruppenfoto gemacht, mit den Hauptverantwortlichen des Luftsportvereins. Soll ich die Zeitschrift holen?«
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