Daniela Dittel
Gina Keck
und das Herz des Herbstes
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Inhaltsverzeichnis
Titel Daniela Dittel Gina Keck und das Herz des Herbstes Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Impressum neobooks
Mit ihren neun Jahren fühlte sich Gina Keck bereits sehr erwachsen. Was sich in der Tat oft dadurch bestätigte, dass sie von den meisten Erwachsenen aufgrund ihrer Körpergröße von stolzen ein Meter siebenundsechzig, ihrem unumstößlichen Selbstbewusstsein und nicht zuletzt aufgrund ihres überdurchschnittlichen Wortschatzes, den sie auch bestens anzuwenden wusste, entsprechend behandelt wurde.
Daher konnte Gina es auch nicht leiden, dass ihre Mutter sich seit neuestem wieder in ihre tägliche Kleiderauswahl einmischte. Gut, sie hatte das ein oder andere Mal etwas daneben gegriffen. Aber nicht was das Zusammenspiel der Farben, Muster oder Stoffe betraf, sondern aufgrund der höchst mysteriösen Wetterverhältnisse, die schon das ganze Jahr über herrschten.
Wütend starrte Gina mit großen, dunklen Augen aus dem Fenster und schmollte. Dabei schob sie ihre schmale Unterlippe zu einer gut geübten Rolle aufs Kinn hinunter, was in den meisten Fällen eine ausgezeichnete Wirkung erzielte, um das zu bekommen, was man unbedingt haben wollte. Aber hier schien es zwecklos, denn ein beständigeres Wetter erreichte sie dadurch nicht.
«Der blöde Sommer ist schuld daran, dass ich wie eine Dreijährige behandelt werde», dachte sie gereizt und schubste den rosa Pullover vom Bett, den ihre Mutter zurecht gelegt hatte.
«Und den blöden Pulli mag ich nicht, der kratzt. Und Hallo? Falls das noch niemand bemerkt hat, draußen scheint die Sonne.»
Sie presste ihre kleine Nase gegen die Fensterscheibe am Kopfende ihres Bettes und hauchte mit spitzen Lippen ihren Atem dagegen, sodass sie anlief. Es quietschte als sie mit ihrem Zeigefinger eine kleine Blume darauf malte.
«Was ist nur mit diesem Sommer los», dachte sie. «Nicht, dass ich ihn nicht mag. Aber allmählich dauert er schon viel zu lange und vor allem ist er so anders als die Jahre zuvor.»
Unreif und unstet brachte der Sommer das Wetter über die Erde, wie ein kleines Kind...
Ja, genau wie Ginas kleiner Bruder Ben, wenn er von seinen Gefühlen überwältigt, mit seinen Armen wild fuchtelnd, seinen Willen durchzusetzen versuchte...
Viel zu früh war es heiß geworden in diesem Jahr. Bereits im März, wo die Blumen noch gemütlich in der Erde keimen sollten, schossen sie innerhalb eines Augenblicks aus ihren dunklen Löchern. Durch den nächtlichen Tau gestärkt, erblühten sie morgens in ihren Beeten, standen tagsüber schattenlos in der heißen Sonne und ließen abends ihre blassen Köpfe hängen. Und unaufhaltsam fielen die ersten welken Blütenblätter zu Boden...
Aus heiterem Himmel folgten gewaltige Unwetter. Zuckende grelle Blitze elektrisierten die schwüle Luft. Wieder und wieder schossen sie durch die grauen Wolkenmassen und entluden sich mit heftigen Donnerschlägen, sodass die Erde unter dem Grollen erzitterte. Dort, wo sie einschlugen, zeigten sie deutlich ihre zerstörerische Macht und verwandelten die Erde zu Feuer und Staub...
Urplötzlich fegten unaufhaltsame Winde in gigantische Säulen über das Land. Sie rissen mit sich, was ihrer Kraft nicht stand hielt und hinterließen eine staubige Spur der Verwüstung und Zerstörung...
Sintflutartiger Regen ergossen sich über das Land und verwandelten Flüsse in reißende Ströme. Seen schwappten über ihre Ufer und überschwemmten das umliegende Land. Ganze Ortschaften versanken in den Fluten, die Ernten wurden ertränkt und Mensch und Tier kämpften um das Überleben...
Dem allem war noch nicht genug. Hinzu kam die frostige Kälte, die innerhalb von Stunden sommerliche Temperaturen auf den Gefrierpunkt sinken ließ...
Letzteres war auch der Auslöser für die übertriebene Fürsorge von Ginas Mutter und ihrem aktuellen Verhalten ihr die Kleidung aus dem Schrank zu legen. Nur weil ihre Tochter ein oder zwei Mal leicht bekleidet vom plötzlichen Kältesturz überrascht wurde und zitternd in die frostige Wohnung zurückkehrte.
Tatsächlich spielte ihre Mutter bereits mit dem Gedanken, die Heizung im Keller einzuschalten, aber die Gewissheit, dass das Wetter am darauf folgenden Tag wieder ins krasse Gegenteil umschlagen würde, hielt sie davon ab.
Schließlich übernahmen die dicken Pullover und Leggins, die in der Tiefe des Kleiderschranks vergraben waren, die Aufgabe des Warmhaltens.
Und so flogen an jenem besagten Sonntag der rosa Pullover samt den geblümten Strumpfhosen im hohen Bogen zurück in den Kleiderschrank und wurden durch eine leichtere Bekleidung ersetzt, denn heute war Frühlingswetter.
Der Himmel lag in einem zarten Blau, durchwandert von weißen Wolken und der Sonne. Die Luft war lau und die Vögel zwitscherten, während der Wind durch das Blattwerk der Bäume streifte und ihnen ein leises Rascheln entlockte.
Gina betrachtete sich in ihrem großen Wandspiegel und zupfte zufrieden die zarten Rüschen an den breiten Trägern ihres hellgelben Kleides, das mit winzigen braunen Punkten übersät war, zurecht. Nur so und nicht anders würde sie den Radausflug, für den sich ihre Familie aufgrund des schönen Wetters entschlossen hatte, mitmachen.
Dieser herrliche Tag bot natürlich auch all den anderen Menschen aus der näheren oder weiteren Umgebung die Gelegenheit, ihren Häusern zu entfliehen. Es zog sie hinaus in die Natur, um in den Wäldern durchzuatmen, durch die Wiesen zu streifen und sich beim Picknick die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Kurzum, alles was Beine hatte, bewegte sich an der frischen Luft und genoss die Wärme.
Niemand störte sich daran, dass die Sommerzeit schon längst verstrichen war und das Erntedankfest vor der Tür stand. Vom Herbst war auch an jenem Tag weit und breit noch nichts zu spüren und zu sehen.
Nun radelte Familie Keck schon über eine Stunde und erfreute sich an dem kühlen Lüftchen, das ihnen beim Strampeln um die Nase und durch die Haare wehte.
Die Stadt lag schon weit hinter ihnen, als sie an einer bunten Blumenwiese anhielten. In der Nähe befand sich ein Wald, unter dessen Bäumen sie Schatten finden konnten, falls die Sonne sommerliche Kräfte annehmen würde.
Schon beim Verteilen der mitgebrachten Speisen auf der rot-grün-karierten Picknick-Decke, lief ihnen das Wasser im Mund zusammen - kalter Braten, würzige Hühnerbeine, knackige Würste, knuspriges Bauernbrot und jede Menge rohes Gemüse und frisches Obst sowie prickelnde Limonade für die Kinder und roten Wein für die Eltern.
Nachdem sie sich satt gegessen und getrunken hatten und nicht zuletzt wegen der ungewohnten sportlichen Betätigung des Radfahrens, übermannte sie die Müdigkeit und sie dösten in der Mittagssonne ein.
Das galt zumindest für Mama, Papa und den kleinen Bruder Ben, nicht jedoch für Gina. Sie schlief nicht. Sie war nicht müde, und sie verstand beim besten Willen nicht, wie man einen so herrlichen Tag verschlafen konnte.
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