«Schlafen, tut man in der Nacht», murmelte sie zu sich selbst und schlich leise davon.
Sie lief durch die Wiese und suchte Heuschrecken, denen sie flink nach hüpfte oder sie mit geschickten Händen einfing, um sie dann nach kurzer Zeit wieder frei zu lassen.
Die langen Grashalme kitzelten Ginas nackte Beine, als sie mit den Armen auf und ab schwingend durch die Wiese tanzte und sich anmutig auf ihren Zehenspitzen drehte. Dabei lösten sich die Samen der Pusteblumen von ihren Stempeln und schwebten sanft im Luftzug ihrer Bewegungen nach.
Nach einer Weile legte sich Gina außer Atem, aber sehr glücklich, zwischen den roten Mohn und streckte Arme und Beine weit von sich. Entspannt suchte sie den Himmel nach Wolkenbildern ab und entdeckte einen Hund mit fünf Schwänzen, eine Maus mit Hasenohren und ein großes Schiff in Seenot. Die Sonne schien kräftig und hell dabei, sodass Gina ihre Augen zusammen kniff, was sie schläfrig machte. Zufrieden seufzend drehte sie sich zur Seite, gähnte herzhaft und blickte in das immer noch grüne Laub der Bäume.
«Ob sich die Blätter jemals wieder rot und gelb färben», dachte sie bei sich.
«Der Sommer ist schon cool, aber mit der Zeit ist er auch langweilig. Ich hätte nichts gegen etwas mehr herbstlicher Farbe an den Bäumen.»
Sie seufzte tief und hing ihren Gedanken nach, was sie zu dem Schluss brachte, dass sich am Wetter wohl so schnell nichts ändern und es für immer ein chaotischer Sommer bleiben würde. Man musste sich wohl oder übel an den Anblick von immergrünen Wiesen und Wälder gewöhnen.
Gina wurde es plötzlich heiß, nicht wegen der Mittagssonne, die mittlerweile kräftig vom Himmel herab schien, auch nicht weil sich kein Lüftchen regte, das Kühlung gebracht hätte, sondern weil die Blätter an den Bäumen plötzlich zu rascheln begannen und das trotz der absoluten Windstille, die gerade herrschte.
Ginas Nackenhaare stellten sich und kitzelten sie merkwürdig. Das war für das aufgeweckte und feinfühlige Mädchen ein ernstes Zeichen, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht zusammenpasste oder in irgendeiner Form nicht richtig war - so wie jetzt in diesem Augenblick.
Sie setzte sich auf und spähte mit wachen und großen Augen in den Wald hinein. Nichts Ungewöhnliches war in den Wipfeln der Bäume zu sehen, kein Vögelchen, kein Eichhörnchen oder irgend etwas anderes dieser Art, welches das Laub hätte bewegen können. So saß sie ganz still und beobachtete aufmerksam weiter.
Dann kam er doch - der Wind - und trug eine zarte, helle Stimme mit sich, dessen Melodie Gina sehr vertraut vorkam.
«Ein Kinderlied», dachte sie.
Wortfetzen drangen an ihr Ohr und beides, Melodie und Text, fügten sich zu einem ihr wohl bekannten Liedchen zusammen.
«Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder, den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter...»
Der Wind verlor sich, aber die Stimme sang weiter.
«...der Frühling bringt Blumen, der Sommer den Klee, der Herbst bringt die Trauben, der Winter den Schnee.»
Das letzte Stück des Liedchens ging in einem herzzerreißenden Schluchzen unter.
Leise, um den Gesang nicht aus den Ohren zu verlieren, erhob sich Gina von ihrem Platz und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Stimme, die aus dem Wald zu ihr herüber hallte.
Plötzlich und heftig kehrte der Wind zurück und riss die zarte Melodie räuberisch mit sich fort und hinterließ lediglich das gewöhnliche Rascheln der Blätter.
Zögernd schritt Gina auf das Gehölz zu, um nach dem Gesang zu lauschen, dabei wirbelte der Wind wild um sie herum. Er zog übermütig an ihren braunen, geflochtenen Zöpfen und zupfte an ihrem feinen Kleidchen, sodass die Nähte beinahe rissen. Er schubste sie, energisch und sanft zugleich vorwärts und strich ihr dabei ermutigend über die Wangen, als wolle er sagen: «Geh! Los, geh in den Wald hinein.»
Gina war etwas mulmig zumute und dennoch lockte das Abenteuer. Sie warf einen unsicheren Blick zu ihren Eltern hinüber, als fände sie dort eine Antwort. Vater, Mutter und Ben lagen jedoch entspannt und in süßen Träume versunken in der Sonne und lächelten zufrieden im Schlaf. Um sie herum lag die Natur friedlich und völlig windstill.
Abermals vernahm Gina das traurige Schluchzen, das aus dem Wald zu ihr herüber drang.
«Da weint doch jemand», dachte Gina.
«Vielleicht ist es ein Kind, das sich verlaufen hat und ich bin womöglich die Einzige, die ihm helfen kann!»
Beherzt marschierte sie in den Wald hinein und ließ sich durch die Hand des Windes führen, bis sie nach einer Weile eine winzige Lichtung erreichten. Dort verschwand er und ließ sie alleine zurück.
So stand Gina nun mitten im tiefen Wald unter hohen dicken Eichen, die das Fleckchen Erde darunter in dunkle Schatten hüllten. Dennoch hatte sie keine Angst, da von diesem Platz nichts Sonderbares ausging, sonst wäre sie durch ihre Nackenhaare gewarnt worden.
Die spärlichen Sonnenstrahlen, die sich geschickt durch die winzigen Lücken des Laubes stahlen, tauchten das Plätzchen in ein malerisches Licht. Und die umher fliegenden flauschigen Samen der nahe stehenden Sträucher und Bäume, rückten den Ort in einen romantischen und unwirklichen Zustand - einem Gemälde gleich.
Gina schaute sich sorgfältig um. Ihr Interesse richtete sich auf eine Steinformation, die inmitten der Lichtung stand und auf den ersten Blick wie drei gewöhnliche Felsblöcke wirkten. Sie waren nicht viel größer als sie selbst. Allerdings besaßen sie etwas Künstlerisches, als wären sie nicht durch Wind und Wetter geformt, sondern durch menschliches Zutun.
Langsam näherte sich Gina den Steinen und je dichter sie kam, desto deutlicher kamen die Einzelheiten zur Geltung. Tatsächlich handelte es sich um grob gemeißelte Statuen, die aus Kopf, Korpus, Armen und Beinen bestanden. Die Haltung, die ihnen an gearbeitet war, zeigte deutlich, dass sie sich vor etwas fürchteten und sich dagegen erwehrten.
Erst jetzt entdeckte Gina das Mädchen, das sich Schutz suchend hinter der letzten Statue auf den Boden kauerte. Sie hatte ihre Arme fest um die Beine geschlungen und schielte ängstlich mit verweinten Augen, die so blau waren wie der strahlende Sommerhimmel, zu Gina hinauf. Sie zitterte am ganzen Körper, sodass ihr Kleid, das aus Rosenblättern gearbeitet war, raschelte. Auf ihrem langen Haar, das in goldenen Locken auf die zierlichen Schultern fiel und ihr Gesicht lieblich umspielten, lag ein Kranz aus bunten Sommerblumen.
«Hallo. Ich heiße Gina und wer bist du?»
Da das Mädchen nicht antwortete und eine unangenehme Stille entstand, fragte Gina neugierig weiter: «Was machst du hier? Hast du dich verlaufen?»
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
«Ich wohne hier», antwortete es scheu.
«Wie? Du wohnst hier? Hier im Wald?»
Gina blickte sich ungläubig um.
« Hier kann man doch nicht wohnen. Wo ist dein zu Hause? Deine Eltern?»
Das Mädchen lächelte schwach.
«Der Wald ist meine Heimat.»
Sie deutete mit einer ausschweifenden Handbewegung um sich.
«Jeder Baum, jeder Strauch und jedes Blümlein, kurzum die ganze Natur ringsumher ist mein zu Hause.»
Mit Tränen in den Augen blickte sie die Statuen liebevoll an und fügte traurig hinzu: «Und diese drei Steine sind meine Familie.»
Andächtig erhob sich das hübsche Mädchen, streichelte der ersten Figur zärtlich übers Gesicht und sagte: «Darf ich vorstellen. Das ist mein älterer Bruder, der Frühling.»
Sie widmete sich dem nächsten Stein, küsste ihn sacht auf die Wange und sagte: «Das ist Herbst, mein jüngerer Bruder.»
Zuletzt streichelte sie der dritten Statue sanft übers Haupt und ließ die Hand auf deren Schulter ruhen.
«Und das ist Winter, meine geliebte Schwester, die Jüngste der Familie.»
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