Sonja Schöning - Angstkind

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Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Doch es kommt vor, dass sie sich einfach ungefragt in ein Leben drängt, von ihm Besitz nimmt, es beherrscht und nichts mehr so sein lässt, wie es war. Dies ist die Geschichte eines solchen Lebens. Sehr offen, unsentimental und manchmal auch mit einer Prise Selbstironie erzählt die Autorin von ihrem täglichen Kampf mit der Angst, von ihren kleinen und großen Erfolgen und Niederlagen. Anderen Angstkranken dürfte vieles davon bekannt vorkommen, weil sie es so oder ähnlich selbst erlebt haben. Angstfreie Menschen werden sich glücklich schätzen, dass ihnen so etwas erspart geblieben ist und trotzdem erkennen, dass auch ein Leben mit Angst nicht nur eine Katastrophe sein muss.

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Sonja Schöning

Angstkind

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Impressum neobooks

1.

Morgens ist es am schlimmsten. Ich mache die Augen auf und schon ist sie da, die Angst – meine Angst, meine treueste und zuverlässigste Lebensbegleiterin. Ich verabscheue sie, ich lehne mich gegen sie auf, ich versuche sie niederzuringen. Doch sie scheint fest entschlossen, mich nie mehr zu verlassen.

Im Dunkeln taste ich nach meiner Tablette auf dem Nachttischchen, dem Viertel einer Fünf-Milligramm-Valium, und schiebe es unter meine Zunge. Ein Viertel habe ich vor dem Schlafengehen genommen. Das geht schon über viele Jahre so. Ich bin stolz darauf, dass ich es geschafft habe, die Dosis nie zu erhöhen. Die Tabletten verschreibt mir einer unserer Freunde, ein Arzt im Ruhestand. Er ist nicht zimperlich mit dem Verschreiben und Selbstschlucken von allerlei Medikamenten. Ich bin heilfroh darüber, denn bei einem praktizierenden Arzt war ich schon jahrelang nicht mehr: zu viel Angst.

Ich liege in meinem Bett und spüre, wie mein Herz anfängt zu rennen. Ich kann nicht mehr ruhig liegen. Trotzdem versuche ich, langsam und bewusst zu atmen und dabei an etwas Schönes zu denken. Es gelingt mir nicht. Ich springe aus dem Bett, schlüpfe in meine Anziehsachen, die auf dem Fußboden bereit liegen und renne treppab hinunter in die Küche. Die Kaffeemaschine ist schon präpariert, ich muss nur noch den Knopf drücken. Der Frühstückstisch ist gedeckt, das erledigt mein Mann jeden Abend.

Ich mache Katzenwäsche im Gäste-WC. Mein Herz schlägt schneller, die Angst wird größer. Ich möchte nach draußen laufen, ich brauche dringend eine Zigarette. Stattdessen bestreiche ich mir ein Toastbrot mit Butter und warte, dass der Kaffee endlich durchgelaufen ist. Ich horche nach oben, ob mein Mann schon aufgestanden ist. Ihn wach zu wissen, das beruhigt mich ein wenig.

Ich ziehe die Rollläden im Wohnzimmer und in der Küche nach oben. In unserer Wohnstraße ist schon Leben. Schulkinder sind unterwegs, Hundehalter, die ihre erste Runde drehen. Und immer frage ich mich, wie all diese Menschen so entspannt und selbstverständlich, so ganz und gar angstbefreit ihre Aufgaben erledigen können. Alles, was für die meisten Menschen so leicht und selbstverständlich ist, kostet mich große Anstrengung und Überwindung. Oder ich schaffe es gar nicht. Vieles probiere ich heute einfach gar nicht mehr. Im Laufe der Jahre sind mir der Antrieb, der Ehrgeiz und wohl auch die Kraft für all die großen und kleinen Kämpfe abhanden gekommen.

Ich stopfe mir den Toast in den Mund, spüle mit Kaffee nach und zünde mir die erste Zigarette an. Trotz meiner großen Angst um mein Herz habe ich es nie geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören. Irgendwann ist auch mein Mann startklar für das immer gleiche Ritual. Wir steigen ins Auto mitsamt unserem Hund. Das Auto bedeutet für mich Sicherheit. Schließlich komme ich damit ganz schnell zum nächsten Krankenhaus. Dass unser Auto jetzt alt ist, macht mir große Sorgen. Andererseits hat es noch nicht viele Kilometer hinter sich. In den letzten Jahren sind wir kaum aus unserem Wohnort hinausgekommen. An unserem Kiosk kauft mein Mann die Zeitung und Brötchen. Danach läuft er mit dem Hund nach Hause, ich fahre. Morgens kann ich nicht allein im Haus sein. In meinem Zustand finde ich das viel zu gefährlich. Was, wenn ich einfach umfalle, so ganz allein und unbemerkt? Nach diesem morgendlichen Ausflug werde ich meist ruhiger. Mein Mann frühstückt ausgiebig und entspannt, ich löse das Kreuzworträtsel in der Zeitung.

Seit einigen Jahren ist mein Mann Rentner. Ich habe mir immer vorgestellt, dass alles besser wird, wenn wir den ganzen Tag zusammen sind. Leider ist das nicht so. Nach dem Frühstück zieht sich mein Mann in sein Arbeitszimmer zurück. Und ich versuche, mich irgendwie zusammenzusuchen. Am liebsten sind mir die Tage, an denen ich voraussichtlich mit nichts behelligt werde: keine Termine, keine Besucher, keine Anforderungen. Nur Gleichförmigkeit.

In der letzten Zeit ängstigen mich alle Besuche, selbst die der eigenen Kinder. Wenn sie dennoch kommen, bin ich so aufgeregt, dass ich fürchte, jeden Moment einfach umzufallen. Und genau das möchte ich ihnen und mir ersparen. Ich möchte nicht, dass sie sich ängstigen oder gar Sorgen um mich machen. Es reicht schon, dass ich meinen Mann verunsichere, zuweilen wütend und aggressiv mache. Meine, unsere Tage verlaufen eintönig und eigentlich immer gleich. Ich koche, ich wasche, ich kaufe ein. Und immer lauert die Angst. Die Gewissheit um sie ist immer präsent. Wann und wo schlägt sie das nächste Mal zu?

Am liebsten sind mir die Abende. Wir gehen nicht mehr oft aus. Auch mein einstmals großer Freundeskreis ist nicht mehr da. Mittlerweile ist mir das egal. Ich habe keine Lust und keine Energie mehr, mich ständig zu entschuldigen und zu rechtfertigen. Trotz aller Aufklärung habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen denken, bei einer Angsterkrankung trage der Betroffene zumindest doch ein bisschen Schuld. Ich verbringe die meisten Abende also auf dem Sofa vor dem Fernseher. Und genieße die halbwegs entspannten Stunden. Bis dann am nächsten Morgen alles von vorn beginnt.

2.

Meine erste Angstattacke überfiel mich mit dreizehn Jahren - so brutal und unverhofft wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. Ich stand in der überfüllten Straßenbahn auf dem Nachhauseweg von der Schule. An den Wochentag kann ich mich nicht mehr erinnern, auch nicht an die Jahreszeit. Aber wahrscheinlich war es Frühling. Ich weiß nur, dass es ein Mittag war wie jeder andere auch. Ich alberte mit meinen Klassenkameradinnen herum, vielleicht sprachen wir über Lehrer, Klassenarbeiten und Nachmittagsverabredungen. Vor allem aber wollten wir nach Hause zum Mittagessen.

Und dann war da plötzlich dieses Gefühl: Ich sterbe! Jetzt, sofort, auf der Stelle bin ich tot! Die Bahn hielt gerade an, noch vier Stationen bis nach Hause. Mein einziger Gedanke: Nur weg hier! Wie wild kämpfte ich mich durch den Pulk von Kindern und sprang hinaus auf die Straße. Und dann rannte ich los. Ich rannte, die Hände in die Gurte des schweren Tornisters gekrampft, der auf meinem Rücken auf und nieder hüpfte. Ich rannte vorbei an der Feuerwache, am Friedhof, am Spielplatz, an Häuserfronten. Tatsächlich bin ich lebend zu Hause angekommen. Später, als die große Angst um mein Herz begann, habe ich mir immer klarzumachen versucht: Wenn das die ersten Anzeichen einer schweren Herzerkrankung gewesen wären, hätte ich diesen Lauf nicht überlebt.

Meine Mutter war ratlos, schien aber nicht besonders besorgt. War ich nicht immer schon, verglichen mit meinen Schwestern, ein leicht hysterisches und überängstliches Kind gewesen? Wir sprachen am Nachmittag nicht mehr über den Vorfall. Ich weiß nicht mehr, ob sie oder ich es abends meinem Vater erzählte. Für mich allerdings war von diesem Tag an nichts mehr so wie es war. Am nächsten Morgen wollte ich nicht aufstehen. Der Gedanke, in die Straßenbahn zu steigen, erschien mir unerträglich und nicht zu bewältigen. Ich weinte und bettelte, zu Hause bleiben zu dürfen, auch am nächsten und übernächsten Tag.

Dann befanden meine Eltern, dass etwas unternommen werden müsse. Gutes Zureden, Besänftigungen und schließlich Drohungen fruchteten nichts. Unser Hausarzt kam. Er war ein gutmütiger, vertrauenerweckender, dicker Mann, der stets schnaufend und schwer mit seinem großen braunen Doktorkoffer die Treppen zu unserer Wohnung hinaufstieg. Ich mochte ihn sehr. Bei all unseren Kinderkrankheiten hat er uns betreut. Und immer ging es uns besser, wenn er nach uns geschaut hatte.

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