Doch diesmal schien auch er ratlos. Er fühlte mir den Puls, er horchte auf der Brust, er klopfte hier und klopfte da. Er konnte nichts Beunruhigendes finden. Was sollte man bloß mit einem Kind machen, das einfach nur schreckliche Angst hatte? Später, in der Praxis, wurde mir Blut abgenommen, ein EKG geschrieben. Nichts. Das Mädchen war also gesund.
Aber ich fühlte mich krank, schwach, hilflos. So konnte ich nicht Straßenbahn fahren, zehn Kilometer zur Schule, zehn Kilometer zurück. So konnte ich keine einzige Schulstunde überstehen. Doch ich musste. Meine Eltern wollten, wie sie es nannten, „dieses Theater“ nicht länger mitmachen. Es reichte ihnen. Die nächsten zwei, drei Wochen wurden zu einer furchtbaren Quälerei. Ich merkte, dass ich so anders war, ich distanzierte mich von meinen Schulfreundinnen, sprach nur noch wenig, mied ihre Gesellschaft. Ich konnte mich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Ich wollte nur nach Hause. Vor der Angst sind meine Freundinnen und ich immer gemeinsam an der Endstation der Bahnlinie eingestiegen. Das war ein ziemlicher Umweg, aber es gab dort einen kleinen Kiosk, an dem wir uns Kaugummi oder Süßigkeiten kauften. Jetzt rannte ich allein los, zur nächstgelegenen Haltestelle.
Der einzige Mensch, dem ich mich damals anvertraute, war meine Handarbeitslehrerin. Sie hieß Fräulein Neumann, war mittleren Alters und unverheiratet. Sie mochte mich gern. Und sie konnte mir Verständnis und Mitgefühl zeigen. Vielleicht, weil auch sie Herzrasen, Beklemmungen und Angst kannte. Wann immer es sich ergab, nahm sie mich nach Schulschluss in ihrem VW-Käfer mit und brachte mich nach Hause. Wahrscheinlich lebt sie längst nicht mehr. Aber ich bin ihr bis heute dankbar.
Nebenbei bemerkt: Angst ist eine ausnehmend undankbare Krankheit, auch heute noch, und erst recht war sie es Mitte der 1960er Jahre, als sie mich erwischte und niemand etwas anfangen konnte mit diesem merkwürdigen Phänomen. Bei fast jeder x-beliebigen Krankheit dürfen Betroffene mit Hilfe, Verständnis und Zuwendung rechnen. Als angstkranker Mensch jedoch stößt man oft auf Aggression und Ablehnung.
Ich habe viele Jahre sehr darunter gelitten, ich habe mich gegrämt, war wütend, traurig oder verletzt. Heute bin ich erheblich nachsichtiger mit meinen verständnislosen Mitmenschen. Wie auch soll jemand diese Angst verstehen. Diese Angst ohne konkreten Grund. Man kann Angst vor und um tausend Dinge haben. Aber doch nicht einfach so, scheinbar grundlos. Diese Angst ist nicht zu vermitteln. Lange Zeit wäre ich dankbar für eine anständige Krankheit gewesen, die man ohne Scham und weitere Erklärung jedermann mitteilen kann. Natürlich nichts wirklich Ernsthaftes. Aber eine Schilddrüsenüberfunktion, die hätte ich gerne genommen. So eine Krankheit ist mit den richtigen Medikamenten gut in den Griff zu bekommen und sie erklärt viele Symptome, mit denen sich auch Angstkranke quälen. Ich hätte also freudig rufen können: „Hey, all Ihr Leute, ich bin nicht meschugge, ich kann überhaupt nichts dafür, ich habe lediglich eine Schilddrüsenüberfunktion!“
Doch meine Schilddrüse funktioniert so normal, wie es normaler nicht geht.
Der Rest des Schuljahrs war ein dauerndes Auf und Ab und ich habe erfahren, wie anstrengend, kräftezehrend und zerstörerisch Angst ist. Mal ging ich in die Schule, dann wieder nicht. All die unbeschwerten Selbstverständlichkeiten wie Freundinnen treffen, ins Schwimmbad gehen, einen Einkaufsbummel zu machen – nichts ging mehr. Die Angst hätte mich überall packen können. Ich hatte Angst vor der Angst.
Am Sonntag konnte ich nicht mehr zur Kirche gehen, Familienausflüge fanden ohne mich statt. Ich wurde derweil bei Verwandten abgesetzt. Schon längst blieb ich nicht mehr allein zu Hause. Ich erinnere mich, dass meine Mutter eines Vormittags zum Einkaufen ging und mich allein zurückließ. Die Panik kam umgehend, ich geriet förmlich außer mir, meine Angst zog alle Register mit Zittern, Herzrasen, Atemnot. Ich wusste genau, gleich würde ich umfallen. Zum Glück hatten wir schon ein Telefon und irgendwie schaffte ich es, eine Nachbarin im Nebenhaus anzurufen. Sie kam sofort und blieb bei so lange mir, bis meine Mutter zurück war. Ich war damals sicher, dass sie mir das Leben gerettet hat.
Mittlerweile bekam ich Calcium-Spritzen und ab und zu ein Beruhigungsmittel. Beides änderte nichts. Meist saß ich auf der Küchenfensterbank und beobachtete die Leute auf unserer Straße. Wie erstaunlich gesund und normal sie alle waren. Schon damals fragte ich mich, warum bloß sie keine Angst hatten, ins Auto zu steigen, zur Arbeit zu fahren, Einkäufe zu erledigen, den Hund auszuführen, womöglich in eine Straßenbahn zu steigen, in Kaufhäuser zu gehen, in Aufzüge zu steigen, die doch so leicht steckenbleiben konnten. Kaufhäuser sind mir auch heute noch ein Graus. Nur an guten Tagen schaffe ich es in die oberen Etagen, mit viel Disziplin und nur in Begleitung.
Meine Schwestern nahmen von meinen „Zuständen“ wenig Notiz. Sie hatten mich schon immer als Unruhestifterin in dieser Familie empfunden. Ich glaube, meine Angst sahen sie als eine Art neuer Variante an, mich in den Mittelpunkt allen Familiengeschehens zu stellen.
Auch später konnte ich nicht auf ihre Hilfe oder ihr Verständnis zählen. „Reiß dich zusammen! Mach dich nicht lächerlich! Denk an die Kinder und an deinen Mann!“ Das sind die Standardsätze, die ich immer wieder zu hören bekam. Sie sind alle so klug und aufgeklärt, sie haben ihr Leben voll im Griff. Ich bin in ihren Augen die Einzige, die nichts zuwege gebracht hat. Wie man sich nur von etwas so Banalem wie Angst ausbremsen lassen könne, sagen sie. Schließlich lebten wir hier in Mitteleuropa, in einem Land mit optimaler medizinischer Versorgung. Es gebe Therapien, es gebe Tabletten. Wenn die eine nicht helfe, probiere man halt eine andere aus. Und dann funktioniere man wieder perfekt. So einfach ist das für sie. Heute haben sie den Kontakt zu mir ganz abgebrochen.
Die Sommerferien in jenem Jahr sind mir in schrecklicher Erinnerung. Wie immer fuhren wir zu den Großeltern nach Österreich, meine Mutter, ich und meine Schwestern. Mein Vater blieb stets zu Hause. Die einfachen ländlichen Verhältnisse mit Plumpsklosett und Wasser aus dem Brunnen konnte er nicht ertragen. Früher hatte ich mich immer auf diese Wochen gefreut. Schon die lange Zugfahrt mit der dampfenden Lokomotive war ein großartiges Abenteuer. Jedes Mal erwartete uns der Großvater mit dem Handkarren auf dem kleinen Bahnhof, verlud das Gepäck, und dann ging es durch Felder und Wiesen zum kleinen Haus der Großeltern, ganz nah am Waldrand. Ich konnte es kaum erwarten, die Ziegen, Hasen und Gänse zu sehen und in den kleinen Konsum unten im Dorf zu laufen, wo wir uns für ein paar Schilling jeden Tag Schokolade und Almdudler kaufen durften.
Diesmal fand ich alles bedrückend. Der Wald erschien mir viel zu schwarz, in unserem einsamen Dorf gab es kein Auto, kein Telefon und natürlich auch keinen Arzt. Wie sollte ich Hilfe bekommen, wenn mich die Angst packte und mein Herz schrecklich zu rasen begann?
Seit einiger Zeit schon spürte ich oft einen Kloß im Hals, der mich irgendwie zu ersticken drohte. Ich wollte nach Hause, in die Sicherheit der Großstadt, wo es Ärzte und Krankenhäuser gab. Ich wollte nichts unternehmen, nirgendwohin gehen. Nicht einmal mit meinem Großvater in den Wald zum Pilze suchen, nach dem Regen, wenn die Dunstschwaden aus dem Boden aufstiegen und die Schwammerl besonders gut schossen. Noch heute ist mir der Duft der in frischer Butter geschwenkten Pfifferlinge gegenwärtig. Dazu gab es kleine Kartoffeln und Gurkensalat. Ich glaube, ich habe nie mehr etwas so Köstliches gegessen.
Aber in diesen Wochen hatte ich keinen Hunger. Ich war blass. „Das Madl schaut aber gar nicht gut aus“, befand die Schneiderin, die uns jedes Jahr ein neues Dirndlkleid anfertigte. Das zu hören erschreckte mich zutiefst. Man konnte mir also ansehen, dass ich krank war. Auch heute noch vertrage ich Sätze wie „Du siehst ein bisschen abgespannt aus“ oder „Hast zu abgenommen?“ nicht. Sie treffen mich tief und ich fühle mich sofort sehr schlecht. Auch Mitgefühlsäußerungen wie „Ach, du armes kleines Ding, du bist ja wirklich nicht zu beneiden“ waren und sind mir schlicht zuwider.
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