„Also, was hat Andy denn genau gesagt?“, frage ich und bohre nicht weiter wegen der Verabredung nach.
„Dass Saul Dinge weiß, die er uns nicht verrät. Wichtige Dinge.“
„Und woher will Andy das so genau wissen?“
Maras Stimme wird zu einem Flüstern: „Er hat es in der Schrift gesehen.“
„Wann?“
„Er konnte nicht lange lesen. Saul hat die Schrift nach einer seiner Reden auf dem Tisch liegen gelassen. An dem Abend, als wir uns den Kampf zwischen Max und deinem Bruder anschauen mussten. Andy konnte sich nicht zurückhalten, einen Blick zu riskieren.“
„Tatsächlich.“ Ich schaue sie verdutzt an. Dabei habe ich immer geglaubt, Saul könne nur die Kapitel für bestimmte Tage aussuchen. Anscheinend wurden einige Kapitel niemals ausgesucht.
Wovor hatte er Angst?
„Die Schrift besagt, dass Zusammenarbeit die wichtigste Überlebensregel ist,“ fährt Mara fort. „Wenn wir zusammen arbeiten, haben wir den besten Zugriff auf die Macht. Wir brauchen gar keinen Anführer.“
„Aber... das ist nicht richtig,“ stammle ich. „Es ist das Gesetz des Anpassungsfähigsten was zählt.“
„Nein, das stimmt nicht. Eine Gruppe ist am stärksten, wenn wir alle etwas beitragen. Wenn jemand nur alle Kraft aus der Macht für sich selbst abschöpfen will, wird er böse. Und alle, die einem solchen Anführer folgen, werden ebenfalls das Licht verlieren.“
„Wenn das so ist, müssen wir was tun!“, zische ich leise, obwohl niemand in der Nähe ist, der uns belauschen könnte. „Wenn Saul uns anlügt...“
Mara seufzt abwehrend. „Es wäre an uns Beweise aufzutreiben. Aber wir können gar nichts beweisen. Andy konnte nur einen kurzen Blick auf die Seite werfen, aber sie nicht herausreißen, damit wir sie herumzeigen können.“
Den Rest des Rückwegs setzte ich nur benommen einen Fuß vor den anderen ohne überhaupt hinzusehen. Ich kriege Maras Geschichte einfach nicht aus dem Kopf. Es würde bedeuten, dass wir von einem machthungrigen Typen belogen wurden, der uns in die Wildnis schickt, um nach der Macht zu suchen, damit er sie uns stehlen kann. Vielleicht sollte ich Colin davon erzählen.
***
Am Tor im Zaun, der um das Grundstück des Landguts herum läuft, wartet eine Frau. Jemand aus dem Dorf. Vielleicht ist sie hier, um uns Neuigkeiten aus Newexter zu bringen oder um einen Brief von Saul abzuholen.
Erst als sie sich umdreht, erkenne ich sie. Braunes Haar. Müde, blaue Augen, die mich anstarren. Vor sechs Jahren konnten diese Augen mich nicht ansehen, als ich mein Elternhaus verließ.
Die Frau ist meine Mutter.
„WAS - was machst du denn hier?“ stammle ich.
Mara schaut meine Mutter an als hätte sie einen Geist gesehen. Tatsächlich ist die Begebenheit fast schon genauso ungewöhnlich: Eltern besuchen ihre Kinder niemals auf dem Landgut. Warum sollten sie? Wir brauchen sie nicht. Wir können uns sowieso nicht auf sie verlassen.
Mutter streckt die Hand nach mir aus und legt sie auf meine Schulter. „Leia. Du bist so groß geworden.“ Ihr Blick landet auf der Halskette, die ich trage. Tränen schwimmen in ihren Augen. „Wie geht’s dir?“
„Gut“, antworte ich steif.
„Und wie geht’s Colin?“
„Auch gut.“
Ihre Augen weichen nicht von meinem Gesicht. „Ich hab dich so vermisst“, wispert sie. „Ich hätte euch beide nie gehen lassen dürfen.“
Ich blinzle. „Was meinst du damit? So ist das nun mal.“
Sie schüttelt den Kopf. „Das glaube ich nicht mehr“, murmelt sie kaum hörbar.
„Was meinst du damit, dass du das nicht mehr glaubst?“
„Es ist nicht richtig.“ Sie wringt ihre Hände. „Es kann nicht richtig sein, seine Kinder schon so früh loszulassen.“
„Und was ist mit Vater?“, frage ich perplex.“Steht er als nächstes auf der Matte?“
„Dein Vater ist tot“, antwortet sie monoton.
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals während sich die Stille zwischen uns in die Länge zieht.
„Tot?“, wiederhole ich benebelt.
Meine Mutter nickt nur.
Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe damit gerechnet, meinen Eltern in einen paar Jahren wieder über den Weg zu laufen. Ich hätte sie von weitem gesehen, am anderen Ende des Marktplatzes. Ich hätte mich höflich mit ihnen im Dorfladen unterhalten. Sie hätten mich niemals besucht. Sie hätten meine Kinder niemals kennengelernt, aber sie wären wenigstens in der Nähe gewesen.
Ich werde meinen Vater niemals wiedersehen.
„Was ist passiert?“, frage ich vorsichtig.
„Die Grippe hat ihn erwischt. Er hatte hohes Fieber und der Heiler wusste einfach nicht weiter. Es war nichts zu machen.“
„Tut mir leid“, bringe ich gebrochen heraus. „Mein Beileid.“
Ich bin meinen eigenen Weg gegangen. Ich stehe auf meinen eigenen Beinen. Ich brauche meine Eltern nicht und sie werden nicht für mich da sein. Die Macht ist das einzige, auf das wir uns verlassen können. Aber warum fühle ich mich dann so unglaublich traurig und leer als ich von dieser Neuigkeit erfahre?
„Danke,“ nuschelt meine Mutter. „Ich hoffe, du wirst bald nach Hause kommen.“
Ich nicke widerstrebend. „Sobald ich bereit bin zu heiraten, komme ich zurück. Nicht einen Moment eher.“
Meine Mutter sieht von mir zu Mara und wieder zurück. „Sagt mal: zieht Saul immer noch die Fäden auf dem Landgut? Er unterschreibt seine Berichte nie.“
„Ja“, antwortet Mara mit einem angeekelten Gesicht. „Zusammen mit Ben.“
Mutter runzelt die Stirn in Sorge. „Dann ist es also wahr.“
„Was denn?“, frage ich.
Sie schaut mich ernst an. „Süße, Saul ist schon einundzwanzig. Er hätte schon vor langer Zeit gehen sollen. Irgendwas stimmt nicht.“
Einundzwanzig? Die ältesten von uns, die das Landgut verlassen, sind neunzehn und bilden dann auch eher die Ausnahme als die Regel.
„Es wird Zeit, dass Newexter eingreift“, fährt meine Mutter fort. „Ich werde es dem Ältesten erzählen.“
„Was?“, fahre ich auf. „Eine Intervention? Vergiss es!“ Der Älteste mag zwar hohes Ansehen genießen, weil er am längsten überlebt hat, aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, für uns auf dem Landgut Entscheidungen zu treffen.
„Wir wollen euch doch nur helfen.“
Ich gebe einen deutlich abwertenden Laut von mir. „Wir brauchen eure Hilfe nicht. Wir können uns um uns selbst kümmern.“ Bevor sie noch weiteren Unsinn von sich geben kann, öffne ich das Tor und schleife Mara mit hinein. Innerlich koche ich vor Wut. Wenn Saul wirklich schon zu alt ist, um noch länger hier zu bleiben, dann werden wir ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Die Eltern aus Newexter sollten schön dort bleiben und uns das selbst regeln lassen.
Dann muss ich plötzlich wieder an sie denken. Mutter. Sie sah einsam und blass aus. Hat sie sich wirklich Sorgen um mich und Colin gemacht? Warum sollte sie?
Zögerlich schaue ich zurück, aber ich sehe sie nicht länger am Tor stehen.
***
Saul steht draußen vor dem Haus als wir vom Seiteneingang auf ihn zukommen. Seine starken Hände hantieren mit einem Messer, um einen neuen Pfeil zu schnitzen. Er schaut nicht in unsere Richtung, aber mein Herz klopft schneller, je näher wir kommen. Ich kann seinen Blick auf uns irgendwie spüren. Er weiß, dass wir da sind.
Gerade als wir auf die Terrasse neben das Haus treten wollen, atmet er einmal tief ein. „Halt“, sagt er leise.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Mara schaut weg und alle Farbe weicht aus ihrem Gesicht als Saul sich zu uns umdreht und sein Messer wegsteckt. Seine dunklen Augen, das dunkle Haar und die dunkle Kleidung sind wie ein Tintenfleck auf der weißen Wand des Herrenhauses.
Wir stehen da wie ein Paar Rehe in Erwartung auf den Sprung des wilden Hundes. Festgehalten von Sauls schwarzem Blick. Einer seiner Mundwinkel verzieht sich zu einem Lächeln.
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