Aber Finn besaß die Gabe, auch die ängstlichsten Tiere zu beruhigen. Furchtlos stand er neben riesigen Kaltblutpferden, zog ihren gewaltigen Schädel zu sich herab, murmelte unentwegt freundliche Worte in ihr Ohr und brachte sie so zur Ruhe.
Es hätte alles richtig schön sein können, doch leider war Finns Vater oft jähzornig und brüllte seinen Sohn an, sobald der etwas falsch gemacht hatte. Diese Wutanfälle steigerten sich zu einer bösartigen Raserei, wenn er betrunken war. Und das war Ole Janssen oft.
Er ging nach Feierabend regelmäßig in den Gasthof unten an der Straße und trank dort den einen oder anderen Korn zu viel. Anschließend torkelte er heimwärts, und wer ihm in die Quere kam, konnte schon mal mit Beschimpfungen oder sogar Schlägen rechnen. Und dabei machte Ole Janssen keinen Unterschied, ob es sich um Fremde oder Familienmitglieder handelte.
Darum war Finn, bei aller Begeisterung für die Arbeit eines Hufschmieds, auf der Hut, wann immer sein Vater in der Nähe war.
Bei einem der Bauern standen ein paar Ponys auf der Weide, hauptsächlich für die Kinder der Feriengäste. Als Finns Vater gerade die Hufe eines dicken Shetlandponys raspelte, sagte der Bauer zu Finn: »Die Ponys haben viel zu wenig Bewegung. Hast du nicht Lust, sie zu reiten?«
Finn blickte zögernd zu seinem Vater. Er träumte schon ewig davon, reiten zu lernen, aber die teuren Stunden im Reitverein konnten seine Eltern nicht bezahlen. Doch es war zweifelhaft, ob sein Vater nun einwilligen würde.
»Setz dem Jungen keine Flausen in den Kopf«, brummte Ole Janssen auch prompt. »Der muss erst mal ordentliche Schulnoten nach Hause bringen, da hat er genug zu tun.«
Finns Augen brannten vor Enttäuschung. »Aber mein Zeugnis war doch gut. Und jetzt sind Ferien«, sagte er und vergrub eine Hand in der dichten Mähne des Ponys. Nie war sein Vater zufrieden mit ihm.
»Falls der Junge auch mal als Hufschmied arbeiten soll, kann es nicht schaden, wenn er ein bisschen mehr über Pferde lernt«, unterstützte ihn Bauer Peters und Finn schöpfte neue Hoffnung.
Doch sein Vater schüttelte nur mit finsterem Blick den Kopf.
Finn wusste kaum, wohin mit all seiner Wut und Enttäuschung. Aus lauter Verzweiflung fuhr er zum Todesberg und sauste mit dem Fahrrad den asphaltierten Hang hinunter. Anschließend kämpfte er sich den Berg wieder hoch – er schaffte es mittlerweile bis ganz hinauf, ohne abzusteigen.
Nach dem fünften Aufstieg ließ er sich schwer atmend und erschöpft auf den Baumstumpf sinken, auf dem einmal Greta Bubendey gesessen hatte, blutend und weinend. Drei Jahre war das nun schon her. Er hatte seitdem kaum noch etwas mit Greta zu tun gehabt. Sie schien ihn zu meiden, und wann immer sie Finn zufällig doch mal alleine antraf, tat sie so, als würde sie ihn nicht sehen. Zum Glück waren sie mittlerweile auf verschiedenen Schulen, sodass er diese Schmach nur selten ertragen musste.
Doch Greta ging Finn seit jenem Tag damals nicht mehr aus dem Sinn. Ihre Verletzung hatte sicher scheußlich wehgetan, aber nach dem ersten Schreck war sie sehr tapfer gewesen. Und überhaupt, was für ein mutiges Mädchen, das tatsächlich freihändig den Todesberg hinuntergefahren war. Er konnte es kaum glauben. Einige seiner Freunde wagten das bis heute nicht.
Finn hatte Greta immer für hochnäsig gehalten. Sie trug so schicke Kleidung. Und ihre blonden Haare waren jeden Tag sehr ordentlich frisiert. Kürzlich hatte sie ihre langen Zöpfe abschneiden lassen. Mit dem modischen Pagenschnitt sah sie wunderschön und sehr erwachsen aus. Und war für Finn unerreichbarer denn je.
Er wusste genau, was Greta von ihm hielt, sie hatte es ihm früher oft genug hinterhergebrüllt. Dösbaddel – Dummkopf. Er war eben nur der Sohn eines Schmieds, ärmlich gekleidet und weniger gebildet als diese ganzen Akademikerkinder. Dabei war er in der Schule mittlerweile richtig gut, er war sich sicher, dass er das Zeug hatte, um aufs Gymnasium zu gehen. Doch das stand außer Frage.
»Wozu brauchst du Abitur?«, fragte sein Vater. »Für ehrliche Arbeit benötigt man seine Hände und nicht den Kopf.«
Also wurde er trotz guter Noten auf der Realschule angemeldet. Greta, die natürlich aufs Gymnasium ging, sah er seitdem kaum noch; nur gelegentlich liefen sie sich in der Stadt über den Weg, und dann wechselte Greta jedes Mal die Straßenseite.
Früher wäre ihm das egal gewesen, doch an jenem Tag im Sommer vor drei Jahren war irgendetwas geschehen mit ihm. Plötzlich hatte er keine Lust mehr, mit Greta Bubendey zu streiten und sie zu necken. Vielmehr kränkte es ihn, wenn sie durch ihn hindurchsah, als sei er Luft. Und er sehnte sich danach, noch einmal ihre weiche Haut zu küssen und dieses süße Lächeln zu sehen, das sie ihm anschließend geschenkt hatte.
Doch nun war Greta ohnehin erst mal fort und machte mit ihrer Familie Urlaub in Dänemark. Und er, Finn, war den Launen seines Vaters ausgesetzt. Wenn der ihm wenigstens erlaubt hätte, reiten zu lernen. Das hätte ihn gut von all den trüben Gedanken abgelenkt. Aber wer weiß, vielleicht klappte es ja doch noch irgendwie. So schnell gab ein Finn Janssen nicht auf.
Drei Tage später stand Finn erneut auf dem Hof von Heinrich Peters, dem Bauern mit den Ponys. »Ich würde das mit dem Reiten gern mal probieren«, sagte er und hoffte, dass niemand merkte, wie sehr sein Herz raste.
»Hat dein Vater doch ein Einsehen mit dir gehabt?«
»Mhm.« Finn nickte. Nur nicht zu viel sagen, was nachher gegen ihn verwandt werden konnte.
Bauer Peters schaute ein wenig misstrauisch, aber er hatte keine Zeit, sich Gedanken über Finn zu machen. Er wies zu den Stallungen. »Geh mal den Hinnerk suchen, der ist da irgendwo.«
Zaghaft stapfte Finn über den Hof. Er wich einem knurrenden Hund aus und machte einen Bogen um ein paar Kuhfladen. Hinnerk Peters stand in einem dunklen Stall und verteilte gerade einen Ballen Stroh in einer Box. Er war ein paar Jahre älter als Finn, klein und untersetzt, mit einem rundlichen Gesicht.
»Reiten willst du lernen?« Er nickte bedächtig, nachdem Finn ihm sein Anliegen vorgetragen hatte. »Kein Problem. Wenn du mir beim Misten hilfst, kannst du dich nachher mal auf eins der Ponys setzen.«
Das ließ Finn sich nicht zweimal sagen. Er griff sich eine Mistgabel und Hinnerk zeigte ihm, was er zu tun hatte. Doch obwohl er kräftig für sein Alter war, bekam er bald Blasen an den Händen. Und als er die schwer beladende Schubkarre auf einem Brett, das als Steg diente, hinauf auf den Misthaufen balancierte, kippte sie um. Hinnerk lachte gutmütig.
»Das wirst du schon noch lernen.«
»Dafür weiß ich, wie man Pferde beschlägt«, sagte Finn wichtigtuerisch, und Hinnerk lachte erneut.
Und dann warf er sich endlich ein Halfter über die Schulter und führte Finn auf einen matschigen Paddock hinter dem Stall. Hier standen die Pferde, fünf insgesamt, die Finn bereits alle vom Beschlagen kannte. Zwei gescheckte Shettys, ein schmutzigweißer Isländermix und zwei braune Deutsche Reitponys, die einander so sehr ähnelten, dass Finn sie nicht auseinanderhalten konnte. Hinnerk legte das Halfter einem der beiden an und führte es zum Hof zurück, wo er es zäumte und sattelte und Finn dabei jeden Handgriff geduldig erklärte.
Das Pony hieß Falco und hatte sanfte Augen. Es stand gehorsam still, bis Finn aufgestiegen war und Hinnerk die Steigbügel in der Länge angepasst hatte. Zögernd nahm Finn die Zügel auf und presste die Schenkel gegen Falcos Leib. Der lief tatsächlich los. Seine Bewegungen waren weich und schwingend und er trug Finn in eifrigem Zuckelschritt Runde um Runde auf dem Reitplatz, während Finn sich an das Gefühl des harten Sattels zwischen den Beinen und der Lederzügel in seinen Händen gewöhnte.
Hinnerk war ein guter Lehrer, geduldig und freundlich, und Finn fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr.
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