Am nächsten Tag stimmte Finn einen Singsang an, sobald Greta in der Pause den Schulhof betrat.
»Petze, Petze ging in Laden,
Wollt fürn Dreier Käse haben.
Dreier Käse gab es nicht,
Petze, Petze ärgert sich.«
Seine Freunde lachten und fielen grölend in den Spottreim mit ein.
Greta standen Tränen in den Augen, aber sie ließ sich nicht kleinmachen. Nicht von diesem Finn Janssen, der ein echter Prolet war, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Dabei hatte sie überhaupt keine Ahnung, was ein Prolet war. So was wie ein Arbeiter wohl, wenn sie das richtig verstanden hatte. Finns Vater war Schmied, ein einfacher Mann im Vergleich zu ihrem Vater, dem die Apotheke am Marktplatz gehörte.
»Wir sind Akademiker«, pflegte er zu sagen, und was das bedeutete, wusste Greta ebenfalls nicht genau. Aber an der Stimme ihres Vaters erkannte sie, dass es etwas Bedeutendes sein musste. Akademiker waren wichtige, angesehene Leute, so viel stand fest. Sie waren besser als andere.
Tapfer reckte sie das Näschen in die Höhe.
»Lern nächstes Mal ordentlich, dann bist du nicht auf die Hilfe von schlaueren Leuten angewiesen«, sagte sie zu Finn Janssen.
»Hochnäsige Kuh«, entgegnete Finn. Er steckte die Hände in die Vordertaschen seiner Jeans und schaute sie drohend an.
Wütend drehte Greta sich fort. Am liebsten hätte sie diesem Spacken eine runtergehauen. Aber erst letzte Woche hatte sie beobachtet, wie er auf dem Bolzplatz hinter der Turnhalle einen Jungen aus der Parallelklasse verdrosch. Finn war sehr stark und Greta hatte keine Lust, sich von ihm in den Schwitzkasten nehmen zu lassen, wie es dem anderen Kind passiert war.
Und jetzt musste sie sich schon wieder über ihn ärgern, weil er mit seinem Rad ihren Weg kreuzte, sodass sie gezwungen war, zu bremsen und ihm auszuweichen.
»Du willst mir beweisen, dass du kein Hosenschisser bist?« Er sah sie herausfordernd an. »Dann fahr freihändig den Todesberg hinunter.«
Greta riss die Augen auf. »Spinnst du?«
Der Todesberg war die höchste Erhebung in der Gegend, ein bewaldeter Hügel, der so aussah, als habe ein Riese einen gewaltigen Felsbrocken mitten in die flache Landschaft geworfen.
Im vergangenen Winter, in dem Norddeutschland monatelang im Schnee versunken war, waren alle Kinder am Todesberg rodeln gegangen. Die Erwachsenen sprachen von einer Schneekatastrophe , aber für die Kinder war es das Paradies. Es gab mehrere recht steile Abfahrten an dem Hügel, wobei die gefährlichste unmittelbar vor einem See endete. Wer nicht rechtzeitig bremste oder abdrehte, bekam schon mal nasse Füße. Vor vielen Jahren war sogar ein Junge mit dem Schlitten im See ertrunken. Vermutlich hatte der Hügel damals seinen Namen erhalten, aber das wusste niemand mehr so genau. Gretas Eltern hatten ihr jedenfalls strengstens untersagt, an diesem Hang zu rodeln.
»Also bist du doch ein Schisser«, feixte Finn Janssen.
»Nein!« Jetzt wurde Greta richtig wütend. »Ich bin nur nicht lebensmüde. Das ist ein Unterschied.«
Aber Finn forderte sie immer weiter heraus. »Feigling, Feigling!«, rief er und sie ärgerte sich mehr und mehr.
Sie war kein Feigling, da täuschte dieser Finn sich aber gewaltig. Bloß weil sie ein Mädchen war, hieß das noch lange nicht, dass sie sich nichts traute.
»Also gut, ich mach’s«, erklärte sie mit grimmiger Entschlossenheit.
Und dann fuhren sie gemeinsam zum Todesberg, der ein Stückchen außerhalb der kleinen Stadt Travenstedt lag, in der sie lebten. Ein paar befestigte Wanderwege führten hinauf, und auf der Spitze gab es einen Grillplatz, den Ausflügler aus den größeren Städten manchmal für ein Picknick nutzten. Die Leute aus dem Ort gingen hier mit ihren Hunden spazieren, und gelegentlich kämpfte sich mal ein Radfahrer einen asphaltierten Wirtschaftsweg hinauf, der am Grillplatz endete.
Finn fuhr sehr schnell, und Greta, die mit ihm mithalten wollte, geriet gehörig ins Schwitzen. Sie war bereits außer Atem, als sie den Asphaltweg erreichten, der zum Grillplatz führte. Es ging steil bergauf, und nach wenigen Metern musste Greta absteigen und schieben. Was für eine Schmach! Aber es beruhigte sie, dass auch Finn bald darauf aufgab. Gemeinsam schoben sie ihre Räder bis hinauf zu einer Schranke, die das Ende des Fahrweges markierte.
Beklommen blickte Greta zurück. Links standen hohe Laubbäume, rechts befand sich eine mit Stacheldraht umzäunte Schonung. Der Weg dazwischen war ganz schön abschüssig und unten machte er eine scharfe Kurve. Wenn man die nicht bewältigte, landete man direkt auf einer Straße. Das war fast noch gefährlicher, als in den See zu fallen.
Greta war sich nicht sicher, ob sie diese Herausforderung bewältigte.
»Also, dann mal los.« Finn nickte ihr aufmunternd zu. »Du musst freihändig bis ganz runter fahren, dann nenne ich dich nie wieder Hosenschisser. Versprochen.«
»Du zuerst.« Greta hoffte, Finn werde kneifen und damit sei die Sache erledigt. Doch da hatte sie ihn unterschätzt.
»Alles klar«, sagte er lässig.
Und dann sauste er los, Finn Janssen, der Prolet, in einem halsbrecherischen Tempo – und freihändig, als würde er das jeden Tag machen. Dieser Teufelskerl.
Bewundernd starrte Greta ihm nach und beobachtete genau, wie er am Fuß des Hügels die Griffe des Lenkers wieder umfasste, scharf bremste und sein Rad nach links riss. Triumphierend winkte er zu ihr herauf.
Eigentlich hatte das doch nicht schwer ausgesehen. Sie würde das genauso hinbekommen, ganz sicher.
Rasch, bevor der Mut sie erneut verließ, setzte Greta sich auf ihr Fahrrad und fuhr los. Vorsichtig löste sie die Hände vom Lenker, lehnte sich zurück und balancierte das Gleichgewicht aus. Diesem dämlichen Finn würde sie es zeigen, darauf konnte er Gift nehmen!
Sie wurde rasch schneller und einen Augenblick lang genoss sie den Fahrtwind und das Gefühl von Freiheit, während sie mit fliegenden Zöpfen den Hang hinuntersauste. Doch dann fuhr sie über eine kleine Unebenheit und hatte Mühe, die Spur zu halten. Ein, zwei Meter ging noch alles gut, dann geriet das Vorderrad gefährlich ins Schlingern und hastig griff sie nach dem Lenker. Sie bremste zu stark und da rutschte das Hinterrad weg.
Greta landete samt Rad in einem Graben, der neben der Schonung entlangführte. Ihre Beine schmerzten und etwas Scharfes riss an ihrer Wange.
Zitternd versuchte sie, sich zu befreien, aber sie steckte so blöd unter ihrem Fahrrad fest, dass sie es nicht alleine schaffte.
Verzweifelt schrie sie nach Finn, der auch sofort den Hang heraufrannte.
»He, was ist los?« Atemlos und im Gesicht rot vor Anstrengung beugte er sich über sie. »Oh, Scheiße, du blutest ja total.«
Greta fasste sich an die Wange und erschrak, als sie all das Blut an ihren Fingern sah. Nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr ganzer Körper schmerzte und der Schreck tat sein Übriges.
»Wir schaffen das schon«, sagte Finn. Er hob Gretas Fahrrad mit übertriebenem Gestöhne an und so schaffte sie es, ihr Bein darunter hervorzuziehen. Dann reichte er ihr die Hand und zog sie aus dem Graben. Als sie wieder auf beiden Füßen stand, wies er sie fachmännisch an, zu überprüfen, ob sie Arme und Beine bewegen konnte und alle Gelenke ordentlich funktionierten. Ihre Hose war fleckig und ihre Schienbeine waren aufgeschürft. Aber das schlimmste Problem schien tatsächlich die Wunde in ihrem Gesicht zu sein, die offenbar vom Stacheldraht des Zauns herrührte.
Finn führte sie zu einem Baumstumpf, auf den sie sich setzte, und zog ein zerknautschtes Taschentuch aus seiner Hosentasche. Vorsichtig tupfte er mit dem letzten sauberen Zipfel das Blut von ihrer Wange. Greta schniefte und schluchzte immer noch.
»Du warst echt mutig«, sagte Finn und er klang auf einmal voller Bewunderung. »Ich habe Monate gebraucht, bis ich mich endlich getraut habe, den Hang von ganz oben freihändig runterzufahren.«
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