Alice deutete auf seine entblößte Partnerin. »Muss sie dabei nackt sein?«
Die Frau kicherte. » Müssen tue ich es natürlich nicht, aber ich möchte es. Es soll zeigen, dass wir nichts mehr besitzen. Kein Geld, kein Auto, kein Haus und keine Arbeit. Wir besitzen nur noch unseren Körper. Das Fleisch, die Haut, die Knochen, das Blut und die Haare.«
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Alice, die es jedoch immer noch nicht verstand. Die ganze Aktion empfand sie für recht dumm, aber das behielt sie für sich. Mit einer höflichen Geste verabschiedete sie sich von dem Paar, wünschte ihnen viel Glück und spazierte weiter.
Ein anderer Demonstrant zog sich ein großes, weißes Hasenkostüm an. Alice hatte eine derartige Verkleidung schon einmal in einem Vergnügungspark gesehen, wo Angestellte diese Tierkostüme trugen, um Kinder zu unterhalten.
Was für ein seltsames Volk, diese Demonstranten doch sind , dachte Alice kopfschüttelnd und ging weiter.
Am Eingang des Zoos sah sie zwei Polizisten stehen, von denen einer gutaussehend war und der andere leider nicht. Als sie den sexy Polizisten genauer betrachtete, bemerkte sie seine himmelblauen Augen, sein männliches Kinn und seinen sehr muskulösen Körper. Bei seinem Anblick musste sie ein schmutziges Grinsen unterdrücken. Sofort fühlte sie sich schuldig, denn eigentlich war sie mit Albert hier, und sie wollte ihm nicht untreu sein. Der Gedanke an ihren Schatz veranlasste sie dazu, zurück zum Bus zu gehen. Sie rauchte ihre Zigarette fertig und sah dabei Albert, wie er mit Lydia quatschte. Sie verstanden sich gut miteinander. Etwas zu gut.
Nein! , dachte Alice. Sie flirten miteinander!
Wie konnte Lydia ihr das nur antun? Ihre Freundin wusste von ihren Gefühlen zu Albert. Er war der Grund, warum sie sich diesen Stress überhaupt antat. Sie interessierte sich nicht für diese dämliche Demonstration oder dieses eklige Zeltlager. Einzig Albert war ihr wichtig, und Lydia war drauf und dran, ihr den Geliebten unter der Nase wegzuschnappen. Sie musste das Flirten unterbinden.
Mit entschlossenen Schritten stampfte Alice in ihren weißen Stiefeln zu ihrer Freundin. »Also geht’s jetzt los?«, fragte sie mit einem geheuchelten Lächeln auf ihren Lippen.
Albert und Lydia blickten zu ihr und fingen an, laut zu lachen.
Alice sah die beiden verblüfft an. »Was ist so witzig?«
»Wir …«, lachte Lydia und holte tief Luft, »… wir haben gerade über dich gesprochen.«
»Du meinst wohl gelästert«, sagte Alice wütend.
»Wir haben nicht gelästert«, meinte Lydia. »Albert hat mit mir gewettet, ob du aus dem Bus aussteigen wirst oder nicht.«
»Und wer hat die Wette gewonnen?«, fragte Alice verärgert.
»Keiner von uns. Wir beide haben darauf gesetzt, dass du im Bus bleiben wirst und zurück nach Hause fährst. Also haben wir beide die Wette verloren. Das macht die ganze Sache so witzig«, antwortete Lydia amüsiert.
Alice war kurz davor, ihre Geduld zu verlieren, doch Albert bemerkte ihren Unmut und umarmte sie. »Ich spüre deine negativen Schwingungen, Alice. Sei bitte nicht wütend auf uns, wir haben es nicht böse gemeint«, flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr. »Du musst deinen Geist öffnen und die neue spirituelle Wahrheit in dich aufnehmen. Wir sind hier, um den Politikern die Transformation unserer Gesellschaft zu offenbaren.«
Alice verstand zwar kein Wort von dem, was er sagte, aber seine Umarmung half dabei, sie zu besänftigen. Er drückte sie fest an sich und lächelte sie mit seiner typisch charmanten Art an. Ihre Knie wurden weich. Albert wirkte auf sie wie einer dieser in Marmor gemeißelten Götterstatuen. Perfekt geformt und atemberaubend anzusehen. Hinzu kam noch, dass er verführerisch gut nach Vanille roch. Ihr verkrampftes Gesicht lockerte sich auf. Dieses Mal schenkte sie ihm ein ehrliches Lächeln. Trotzdem konnte sie ihrer Freundin diesen Verrat nicht verzeihen.
»Lasst uns zu unseren Brüdern und Schwestern gehen.« Albert schwang seine Arme um die beiden Frauen und führte sie zu der Menge auf dem Parkplatz.
Die Stimmung unter den Demonstranten erreichte ihren Siedepunkt. Die Teilnehmer waren kurz davor loszumarschieren.
»Wartet hier. Ich besorge uns Masken«, sagte Albert und lief zu einer Frau, die Tiermasken an die Leute verteilte.
Alice nahm die Gelegenheit wahr, um Lydia bezüglich ihres Verrates zu konfrontieren. »Wie konntest du mir nur so etwas antun?«, zischte sie hervor.
»Wie konnte ich dir nur was antun?«, erwiderte Lydia mit überraschter Miene.
»Wie konntest du mich nur so dermaßen hintergehen? Du weißt ganz genau, wie sehr ich Albert liebe.«
»Hintergehen? Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Alice.«
»Leugne es nicht, du Verräterin. Ich habe euch beobachtet, wie ihr miteinander geflirtet habt. Mit meinen eigenen Augen habe ich gesehen, wie du dich an ihn rangeschmissen hast.«
»Wie bitte? Alice, du phantasierst.«
»Und was war im Bus? Da hast du bereits heftig mit ihm geflirtet. Davon weißt du wahrscheinlich auch nichts mehr, oder?« Sie kämpfte mit den Tränen. Sie war kurz davor die Freundschaft mit ihr zu beenden. Zwar kannte sie Lydia erst seit einem Semester, aber sie hätte es schade gefunden, wenn ihre Beziehung so enden würde.
Lydia verschränkte die Arme und konzentrierte nachdenklich ihren Blick. »Ich soll was im Bus getan haben? Ich habe nicht mit ihm geflirtet! Wir haben über seine letzte Demo gegen illegale Tierhaltung geredet, sonst ist nichts passiert.«
»Und das soll ich dir glauben?«, stieß Alice trotzig hervor.
»Glaub, was du willst, aber ich versichere dir, du hast keinen Grund eifersüchtig zu sein. Albert interessiert mich nicht. Ist dir vielleicht schon einmal in den Sinn gekommen, dass ich meine eigenen Beweggründe habe, warum ich bei dieser Demonstration mitmache?«
»Und die wären?«, fragte Alice gleichgültig.
Lydia fuhr fort: »Ich muss dir gestehen, ich habe Angst vor der Zukunft. Wie du weißt, studiere ich Biologie, und die Zustände auf den Universitäten sind unerträglich. Aber das hast du bereits selbst bemerkt, schließlich studierst du Medizin, und dort ist es auch nicht viel besser. Im ersten Semester sind wir ungefähr 800 Studenten, aber die Laborplätze reichen nur für etwa 40 Personen. Kannst du dir das vorstellen? 800 Studenten und nur 40 freie Plätze! Wenn ich nicht zu den besten 40 gehöre, kann ich ein weiteres Jahr auf einen freien Platz warten, vorausgesetzt natürlich ich kann mir weiterhin die Studiengebühren leisten. Und selbst wenn ich einen Laborplatz ergattern sollte, was erwartet mich danach? Was mache ich nach dem Abschluss? Ich werde zum Arbeitsamt gehen müssen und mich arbeitslos melden. Beim derzeitigen Arbeitsmarkt nützt dir nämlich auch kein abgeschlossenes Studium. Hinzu kommen die Unterhaltskosten wie Miete, Strom- und Heizkosten. Selbst mit meinem Nebenjob kann ich das Geld für das Zimmer im Studentenheim kaum noch aufbringen.«
»Dann hau doch ab! Verzieh dich ins Ausland!«, sagte Alice wie ein eingeschnapptes Kleinkind.
»Ich bitte dich! Warum glaubst du, kommen die Studenten aus dem Ausland zu uns? Die haben selbst nicht genug Platz in ihren Heimatländern! Für die Politiker sind wir Studenten nur eine unbedeutende Wählergruppe, deshalb nehmen sie uns nicht ernst und ignorieren unsere Probleme. Wie Albert richtig gesagt hat, wir brauchen eine Revolution, eine Veränderung. Deswegen bin ich hier. Ich möchte etwas verändern.«
»Ja, ja, was auch immer …«, brummte Alice, die sich noch nie viele Sorgen um ihre Zukunft machen musste. Schließlich war ihre Familie reich, und ihr Vater hatte ausreichend Geld. Er kam für ihre Wohnung auf und finanzierte ihr das Studium.
»Ich gebe dir einen Tipp für die Zukunft«, sagte Lydia sichtlich verärgert über das ignorante Verhalten ihrer Freundin. »Es gibt bessere Orte und Gelegenheiten einen Typen aufzureißen als eine Demo wie diese.«
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