„Er hat Krebs“, erklärte Bader bedrückt. Ihm wurde schon wieder komisch zumute, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Irgendwie machte ihm das Schicksal des Fremden mehr zu schaffen als normal gewesen wäre. Wahrscheinlich war er einfach nur übermüdet.
„Das würde einiges erklären. Seine Haut und seine Haare sind bereits angegriffen von der Chemotherapie. Ist er noch in Behandlung?“
„Nein, nicht mehr”, antwortete Mahnmann. Er streckte dem Arzt die Hand hin. „Balthasar Mahnmann. Ich bin der Psychiater von Alexander Beil.“
„Aha“, murmelte der Mediziner skeptisch und ergriff die Hand. „In diesem Fall würde ich dringend anraten, die Behandlung wieder aufzunehmen.“
Bader blickte besorgt in das Verhörzimmer. Beil schien sich wieder in seine eigene, beschränkte Welt zurückgezogen zu haben. Jedenfalls saß er regungslos am Tisch, wie auch die Stunde zuvor.
„Ist er denn vernehmungsfähig?“
„Ja. Aber überanstrengen Sie ihn nicht. Eigentlich gehört der Mann in ein Krankenhaus.“
Der Arzt schnappte sich seine Tasche. „Brauchen Sie mich noch?“
„Nein, danke“, murmelte Bader.
„Gut. Sie wissen, wie Sie mich im Notfall erreichen können.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ schnellen Schrittes das Büro. Er schien froh zu sein, diesem unglückseligen Patienten entkommen zu sein.
Gedankenverloren schaute ihm Bader hinterher. „Sie sind sein Psychiater“, sagte er an Mahnmann gewandt. „Was würden Sie vorschlagen, wie wir vorgehen sollten?“
„Nun, da gibt es etwas, was Sie vorher wissen sollten.“
Doch Mahnmann wurde rüde unterbrochen, als Petersen ins Großraumbüro polterte. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck schob er einen Fernsehwagen vor sich her, auf dem ein alter Röhrenfernseher und ein Videorekorder thronten.
„Schau dir an, was ich auftreiben konnte“, verkündete er lautstark, sichtlich mit sich selbst zufrieden. „Unserem Schulsystem sei Dank. Das Gymnasium nebenan hat noch einige dieser Schätzchen herumstehen.“
Er grinste bis über seine mächtigen Wangen.
Skeptisch musterte Bader das Equipment. Es sah nicht nur betagt aus, sondern auch reichlich abgenutzt.
„Wie hast du das Zeug die Treppe hinauf bekommen?“
„Kräftige Unterstützung von vier jungen Polizisten.“
„Aha! Du hast wahrscheinlich nicht geholfen, nehme ich an?“
Petersen schüttelte sich lachend. „Nein, warum auch? Ich habe schließlich die schwere Last der Verantwortung getragen!“
Bader schüttelte ungläubig den Kopf. „Funktioniert das Zeug wenigstens?“
„Ja. Ich brauche nur eine Steckdose, dann kann es losgehen.“
„Sehr gut“, brummelte Bader zufrieden. „Vielleicht bringt wenigstens dieses Video etwas Licht in die Sache!“
„Guten Tag, Hauptkommissar Bader”, verkündete der Mann auf dem flimmernden Fernsehbild mit fester, unbeirrter Stimme.
„Scheiße, was soll das!?“, stieß Petersen aufgebracht aus, sobald das erste Wort gefallen war. Dieses Mal musste Bader ihn nicht wegen seiner Wortwahl zurechtweisen. Mit einer entschuldigenden Geste in Richtung Mahnmann relativierte er seine harschen Worte sofort wieder. „Ich meine, was hat das zu bedeuten?“, korrigierte er leise nuschelnd.
Sie saßen zusammen in dem kleinen Eckbüro, in dem Bader weitestgehend abgeschirmt vom Trubel des Großraumbüros seine Arbeit erledigen konnte. Inzwischen hatten sich die meisten Kollegen zum Dienst eingefunden und der Raum war erfüllt von Gelächter, dem andauernden Klappern von Computertastaturen und lauten wie leisen Gesprächen. Hinter der dünnen Glastür vermischten sich die Geräusche zu einem monotonen, aber ertragbaren Hintergrundrauschen.
Von dem alten Fernsehbildschirm blickte Alexander Beil auf die drei Zuschauer hinab. Zumindest sah die Person im Fernsehen ihm ähnlich, wirkte allerdings eher wie eine um einiges vitalere Version desselben Mannes. Von der dauerpräsenten Lethargie, die Beil im Verhörzimmer an den Tag gelegt hatte, war nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil. Beil blickte mit wachen, lebendigen Augen in die Kamera, während ein merkwürdiges Lächeln seine dünnen Lippen umspielte. Im Gegensatz zu seinem jetzigen Zustand wirkte er geradezu jugendlich, auch wenn die Krankheit bereits ihre tiefen Spuren in seiner Haut hinterlassen hatte und die Schatten unter seinen Augen auf die unaufhaltsame Zerstörung seines Körpers durch den Krebs hindeuteten.
„Zumindest hoffe ich, dass Sie anwesend sind”, fuhr der Mann im Fernsehen fort. „Aber wenn alles gelaufen ist wie geplant, sitzen Sie jetzt vor dem Bildschirm.“ Er grinste auf eine merkwürdige Art und Weise, die Bader eiskalte Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ. Verdammt ! Woher kannte der Kerl ihn nur? „Ich würde vorschlagen, Sie hören gut zu, denn ich werde mich nicht wiederholen.“ Beil überlegte einen Moment, bevor er ergänzte: „Das ist natürlich nur eine Redensart. Immerhin können Sie das Video beliebig oft abspielen.“ Er lachte kurz und humorlos auf. „Nichtsdestotrotz sollten Sie meine Worte ernst nehmen, denn ich beliebe nicht zu scherzen.“
Er machte eine dramatische Pause. Bader ahnte Schlimmes. Er versuchte durch seine Glasscheibe einen Blick auf das Verhörzimmer zu werfen, aber er konnte Beil von seiner Position aus nicht erkennen.
„Ich will gleich zum Punkt kommen”, verkündete Beil unaufgeregt im Fernsehen. Seine Stimme wirkte frei von Emotionen, kalt und schneidend. „Ich habe in der Stadt ein paar Bomben platziert. Sie werden explodieren, wenn Sie sich nicht penibel an meine Anweisungen halten. Heute werden Menschen sterben, wenn Sie nicht in der Lage sind, die notwendige Disziplin und Geduld aufzubringen, meinen simplen Regeln zu folgen. Es liegt bei Ihnen.“
Wieder dieses Grinsen, das Bader Übelkeit verursachte. Was soll dieses kranke Spiel?
„Scheiße! Was soll das!?“, schnaufte auch Petersen und starrte perplex auf den virtuellen Beil-Verschnitt. „Ist das ein Spiel? Macht der Witze!?“
Die nächsten Worte ließen allerdings keinen Zweifel daran, wie ernst die Situation gerade geworden war.
„Ab jetzt läuft die Zeit”, zerschnitt Beils scharfe Stimme wieder den Raum. „Sie haben die Wahl: Hören Sie auf mich, dann passiert niemandem etwas. Hören Sie nicht auf mich, müssen Sie mit den Konsequenzen leben.“
Das Bild flackerte kurz und die dürre Gestalt Beils wurde durch weißes Rauschen ersetzt, als das Video abrupt endete.
Entsetzt drehte sich Petersen zu Bader um. „Woher kennt dieser Kerl dich? Was soll das?“, fragte er, als ob er tatsächlich erwarten würde, dass Bader eine Antwort auf diese Fragen kannte.
„Ich habe keine Ahnung”, krächzte Bader stoßweise mit Atemzügen, die merkwürdig in seiner Kehle brannten. Er stand auf und trat an die Glastür. Hinter den Glaswänden des Verhörzimmers zeichnete sich die Silhouette Beils ab. Er saß nach wie vor unbewegt am Tisch „Was bezweckt er damit?“, fragte Bader gedankenverloren, mehr sich selbst, als die beiden Männer in seinem Büro. „Was will er von mir?“
Mahnmann räusperte sich hinter ihm, um auf eine ziemlich plumpe Art und Weise Aufmerksamkeit zu erregen. Irritiert drehte Bader sich um.
„Ich sollte Ihnen vielleicht noch etwas erklären, bevor Sie voreilige Schlüsse ziehen”, sagte Mahnmann mit mahnend erhobenem Zeigefinger.
„Blödsinn!“, fuhr ihm Petersen ins Wort, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, seinen Einwand zu erläutern. „Da gibt es nichts zu erklären!“ Er grunzte übellaunig und sprang auf. „Dieser Kerl ist irre. Der versteht nur eine Sprache.“ Er stürmte zur Tür und drängelte sich ruppig an Bader vorbei. „Ich weiß nicht, wie es mit dir steht, aber ich lasse mich nicht länger verarschen!“
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