Mit großen Schritten stapfte er in Richtung Verhörzimmer davon.
„Was hat er vor?“, erklang Mahnmanns besorgte Stimme hinter Bader.
„Ich vermute, er wird Beil ein paar Fragen stellen.“
„Er wird ihn doch nicht verletzen, oder?“
„Puh”, seufzte Bader. „Keine Ahnung. Heinrich ist manchmal ein bisschen impulsiv.“
Jetzt sprang auch Mahnmann auf. „Das müssen wir verhindern!“
Er drängte Bader aus dem Büro. Bader gefiel es nicht, herumgeschubst zu werden, aber im Moment war jedweder Widerstand in ihm erlahmt. Er fühlte sich völlig überfordert. Er hatte Hunger, war unsagbar müde und hatte soeben eine persönliche Drohung von jemandem erhalten, den er nicht einmal zu kennen glaubte. Was war hier nur los?
Petersen erreichte Beil, bevor sie ihn einholen konnten. Mit einem wütenden Griff packte er Beil am dreckigen Kragen und zog ihn auf Augenhöhe nach oben. Beil wehrte sich nicht, sondern hing wie ein nasser Sack am ausgestreckten Arm. Er hätte gegen den vor Wut zitternden Petersen, mit seiner breiten, ausladenden Gestalt, sowieso nicht die geringste Chance gehabt. Sein ausgemergelter Körper wirkte neben Petersen unsagbar zerbrechlich.
„Hör mal, du Stück Dreck!“, brüllte Petersen, so dass seine Stimme überall im Großraumbüro zu hören war. Ein paar Kollegen unterbrachen ihre Arbeit und reckten neugierig ihre Köpfe in Richtung des mutmaßlichen Streitgesprächs. „Was soll das werden, wenn du fertig bist?“
Er spuckte die Worte Beil zusammen mit ein paar Speicheltröpfchen ins Gesicht und schüttelte ihn drohend. Beil schlackerte dabei hilflos mit allen Gliedmaßen wie eine Marionette, deren Lebensfäden durchgeschnitten worden waren.
„Wovon…“, stammelte Beil leise. „Wovon reden Sie?“
„Willst du mich verarschen!?“, schrie Petersen aufgebracht. Seine Stimme überschlug sich mehrmals. „Du elendes Arschloch! Ich spreche von dem Video! Hältst du mich etwa für bescheuert?“
Zornig hob er seine linke Hand, doch Mahnmann, der endlich mit Bader im Schlepptau im Verhörzimmer angekommen war, stürzte nach vorne. Er umklammerte Petersens Arm und drückte ihn nach unten. Petersen war kein Fliegengewicht. Obwohl Mahnmann auch eine sehr sportliche Figur aufzuweisen hatte, fiel es ihm sichtlich schwer, den vor Wut bebenden Koloss von seinem Opfer loszureißen.
„Nein, bitte!“, keuchte er. „Warten Sie! Ich muss Ihnen etwas erklären.“
„So? Was denn?“, wütete Petersen, ließ Beil allerdings los. Mit einem dumpfen Geräusch plumpste Beil zurück auf den Stuhl. „Was könnten Sie mir erklären, das die Sache in irgendeiner Form besser macht?“
Er starrte wütend auf Beil, der merklich zusammenzuckte. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden!“, jammerte Beil leise. Sein dürrer Körper zitterte. „Ich weiß es wirklich nicht!“
„Bitte“, flehte Mahnmann, ohne Petersens Arm loszulassen. „Er sagt die Wahrheit.“
„Was soll das heißen?“, mischte sich jetzt auch Bader ein. Seine Geduld war am Ende. Dieses ständige Geschrei zerrte gewaltig an seinen Nerven. „Wir haben das Video doch gerade alle zusammen gesehen. War das Beil, oder nicht?“
„Ja”, bestätigte Mahnmann hektisch. „Ich meine, nein!“ Er atmete tief durch. „Das ist schwierig zu erklären.“
„Versuchen Sie’s!“, forderte Bader ungeduldig.
Mahnmann seufzte laut auf und ließ mit einem letzten warnenden Blick von Petersens Arm ab. Nachdem sich Heinrich Petersen einigermaßen beruhigt zu haben schien, trat der Psychiater einen Schritt zurück.
„Eigentlich dürfte ich Ihnen das nicht erzählen, aber in Anbetracht der Situation…“, er machte eine kurze Pause und musterte Beil nachdenklich. „Körperlich betrachtet haben wir soeben tatsächlich Alexander Beil gesehen…“, erläuterte er mit leiser Stimme, als wäre es in Ordnung, vertrauliche Patienteninformationen herauszugeben, solange er dabei flüsterte, „…aber trotzdem war er es nicht. Der Mann, den sie auf dem Video gesehen haben, nennt sich selbst Wladimir.“
„Wladimir? Wie, ein Russe?“
Völlig irritiert ließ sich Bader in seinen Bürostuhl fallen. Der Raum schien sich leicht zu drehen. Ob es am Hunger oder an der Müdigkeit lag, vermochte er nicht zu sagen. Vielleicht war es aber auch das schleichende Gefühl, völlig mit der Situation überfordert zu sein.
„Vielleicht. Aber wahrscheinlich eher nicht“, überlegte Mahnmann. Er setzte er sich Bader gegenüber und lächelte gütig. Petersen blieb mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck an den Türrahmen angelehnt stehen. Sie hatten sich wieder in Baders Büro zurückgezogen, um unter sechs Augen über Alexander Beil sprechen zu können. Auch wenn Beil die meiste Zeit kaum ansprechbar zu sein schien, kam es Bader irgendwie merkwürdig vor, vor seinen Augen und Ohren sein Seelenleben auseinander zu nehmen.
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, die ganze Sache etwas näher zu erläutern?“, fragte Bader genervt und rieb sich mit spitzen Fingern die Schläfen. Zu allem Überfluss kündigten sich in seinem Schädel mit einem leichten Pochen auch noch ausgewachsene Kopfschmerzen an. Es würde allerdings nicht mehr lange dauern, bis die Schmerzen ein unerträgliches Maß erreicht haben würden. Er brauchte Ruhe und vor allem ein paar Stunden gesunden Schlaf, sonst würden die nächsten Stunden garantiert ein persönlicher Höllentrip werden.
„Alexander leidet unter einer psychischen Störung, die als dissoziative Identitätsstörung bezeichnet wird.“
„Dissozi…, was?“, fuhr Petersen dazwischen. Er hielt die Arme vor seinem mächtigen Oberkörper verschränkt und musterte Mahnmann feindselig.
Mahnmann grinste überlegen. „Etwas vereinfacht gesagt; Alexander vereint in sich multiple Persönlichkeiten, die abwechselnd die Kontrolle über sein Handeln übernehmen können. In gewisser Weise spiegelt jeder dieser Charaktere einen bestimmten Aspekt von Alexanders Persönlichkeit wider.“
„Ach, Schwachsinn!“, lästerte Petersen. „Das gibt’s doch nicht wirklich, oder?“
„Doch“, bestätigte Mahnmann und nickte vehement mit dem Kopf. Er hatte sich bequem im Stuhl zurückgelehnt und die Beine übereinander geschlagen. Er wirkte etwas oberväterlich, wie ein Professor, der vor Erstsemestern doziert. „Diese Krankheit ist real. Alexander hat verschiedene Persönlichkeiten ausgebildet, die voneinander alle nichts wissen. Er kann sich selbst an nichts erinnern, was passiert, wenn eine andere Person seine Handlungen steuert.“
„Nein, niemals!“ Petersen fuhr sich ungläubig mit seiner Hand über seine Glatze. „Das gibt es nur im Fernsehen. Das ist doch Blödsinn!“
„Glauben Sie, was Sie wollen…“, entgegnete Mahnmann leicht genervt, vielleicht auch beleidigt, „…aber in Ihrem Verhörzimmer sitzt ein Mann, der keine Ahnung hat, was mit ihm passiert ist. Er durchlebt ständige Wechsel von unterschiedlichsten Charakteren, ohne sich an irgendetwas erinnern zu können, was in der Zeit passiert, in der er die Kontrolle verloren hat. Er ist verwirrt, einsam und sterbenskrank.“
Er funkelte Petersen herausfordernd an. „Alexander Beil war für mich eine lange Zeit ein guter Freund und ein geschätzter Kollege. Glauben Sie mir, ich kenne ihn. Dieser Mann ist krank! Physisch wie psychisch.“
„Wie viele?“, mischte sich Bader ein. Seine Kopfschmerzen sprengten inzwischen beinahe seinen Schädel. Er musste sich stark zusammenreißen, um nicht laut aufzustöhnen.
„Wie, bitte?“
„Mit wie vielen Persönlichkeiten haben wir es zu tun?“
Überrascht setzte sich Mahnmann auf. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass seine Theorie so schnell in Betracht gezogen werden würde. „Gute Frage“, sagte er, sichtlich erfreut. „Ich weiß von dreien. Alexander selbst, Wladimir und eine jüngere Version von Alex. Aber es könnten noch weitaus mehr Personen in seinem Verstand schlummern, die ich noch nicht kenne.“
Читать дальше