„Ja, schon gut.“ Das kam einer Entschuldigung Baders so nahe wie nur möglich. Er war nicht unbedingt bekannt dafür, Fehler leichtfertig zuzugestehen.
„Aber was ist das hier?“
Seine Finger betasteten ein kleines, schwarzes Gerät, das sich hinter der Videokassette verborgen hatte.
„Ich denke, ein Messgerät.“
„Ein Messgerät? Wofür?“
„Blutzucker. Für zu Hause“, antwortete Petersen sichtlich stolz, seinem Kollegen eine Antwort voraus zu sein. Er tätschelte liebevoll seinen Bauch. „Ich habe so ein Ding auch zu Hause. Eigentlich müsste ich es nach jeder Mahlzeit benutzen.“
Petersen litt an Diabetes, was wahrscheinlich seiner enormen Leibesfülle zuzuschreiben war. Allerdings hatte er die Krankheit nicht zum Anlass genommen, seine Lebensweise zu überdenken. Ganz im Gegenteil, er trug seine Erkrankung stolz wie eine Trophäe vor sich her, wie ein Veteran, der vor seinen Enkelkindern mit seinen Kriegsverletzungen prahlte.
Bader schüttelte den Kopf. „Du könntest ganz darauf verzichten, wenn du abnehmen würdest“, entgegnete er trocken und pikste demonstrativ in Petersens Bauch. „Schätzungsweise 60 Kilo.“
„Bist du irre?“, entrüstete sich Petersen und verschränkte gespielt schockiert die Arme vor seiner breiten Brust. „Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, mir diesen Wohlstandbeweis anzufuttern?“
Bader warf einen skeptischen Blick in den Mülleimer, der halb versteckt unter dem Schreibtisch stand. Er quoll nahezu über vor Produktverpackungen, die hauptsächlich eine Mischung aus Fett und Zucker enthalten hatten.
„Wenn ich deinen Mülleimer so sehe, so etwa eine Woche“, scherzte er.
„Haha“, machte Petersen. „Ich lach mich tot.“
Väterlich klatschte Bader Petersen auf die Schulter. „Nachher vielleicht, jetzt brauche ich dich noch.“ Er hob demonstrativ die Tüte in die Höhe. „Was heißt das jetzt für unseren Neuankömmling? Ist er zuckerkrank?“
„Weiß nicht. Vielleicht.“
„Wir sollten einen Arzt rufen“, überlegte Bader. „Vorsichtshalber. Bevor uns der Kerl wegen Unterzuckerung abnibbelt.“
„Geht klar.“
Petersen schnippte mit dem Finger. Obwohl er niemanden direkt angesehen hatte, stand auf einmal ein junger Polizist neben ihm. Bader war immer wieder überrascht, wie gekonnt Petersen jede Gelegenheit ausnutzte, Arbeiten auf andere abzuwälzen. Er war besonders geschickt darin, sich eine eigene, kleine Armee von blutjungen, arbeitswilligen Lakaien heranzuzüchten, die er bevorzugt aus der Gruppe der Neulinge rekrutierte.
„Ruf’ einen Arzt, für unseren Freund da drinnen“, befahl er, ohne den jungen Polizisten zu begrüßen. „Und zwar dalli!“
„Jawohl, Herr Oberkommissar!“
Der Polizist war weg, bevor Bader irgendetwas erwidern konnte. Irritiert blickte Bader hinterher. „Erstaunlich“, murrte er. „Wie machst du das?“
„Alles einer Frage der Motivation“, grinste Petersen. „Am Anfang ihrer Karriere machen sie alles für dich, in der Hoffnung, irgendwann auch auf der anderen Seite stehen zu können.“
„So?“, fragte Bader skeptisch. „Sorgen sie auch für Nachschub?“, er zeigte auf den vollen Mülleimer, „Oder musst du immer noch selbst einkaufen?“
„Ach, bist du heute wieder witzig!“
„Das ist mein natürlicher Charme“, grinste Bader.
„Dann kannst du dich mit deinem umwerfenden Charme am besten mal bei unserem Fremden versuchen. Denn das war noch nicht alles.“
Petersen kramte ein bisschen auf seinem Schreibtisch zwischen Schokoriegelpapier, Bäckertüten und Kaffeetassen. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck hielt er ein Blatt Papier hoch. „Das Fax kommt vom Labor. Schlechte Nachrichten. Die Flecken auf dem Hemd sind tatsächlich Blut. Aber sie stammen nicht von unserem Freund.“
„Nicht? Von wem dann?“
Hektisch flogen Petersens Augen über das Papier. „Das steht hier nicht. Für die Analyse brauchen sie länger. Sie haben lediglich einen Blutgruppen-Schnelltest gemacht. Ergebnis: Das Blut hat eine andere Blutgruppe, als die unseres Freundes.“
„Also hat er wirklich jemanden umgebracht?“
„Das solltest du ihn am besten selbst fragen.“
Die klapprige Holztür quietschte ohrenbetäubend, als Bader mit Petersen im Schlepptau das Verhörzimmer betrat. Eigentlich war es eher ein Besprechungsraum, der mittig im Großraumbüro thronte und nur durch ein paar dünne Holzwände vom Rest des Gebäudes räumlich abgetrennt wurde. Großflächige Glasscheiben in der Holzvertäfelung nahmen jedwedes Gefühl von Privatsphäre. Das ganze Gebäude war alt und stammte noch aus einer Zeit, in der Polizisten zu Fuß auf Streife gingen und Berichte noch von Hand geschrieben worden waren. Das war lange her, auch wenn Bader das Gefühl beschlich, sämtliche Investitionen in die Renovierung des alten Polizeireviers wären seitdem äußerst überschaubar geblieben. Zumindest einen Tropfen Öl hätte er für die altersschwache Tür begrüßt, damit sie nicht mehr dieses nervenzerfetzende Geräusch von sich gab. Einen Vorteil hatte es jedoch in diesem Moment. Der Fremde konnte ihre Ankunft unmöglich überhört haben.
Trotzdem ließ er sich nichts anmerken, sondern starrte weiter gebannt auf die Tischplatte, als gäbe es da andere Dinge zu sehen, als lediglich die Spuren von Jahrzehnten der handwerklichen Vernachlässigung.
Bader räusperte sich laut, aber erzielte damit genauso wenig eine Wirkung wie die Tür zuvor.
Unschlüssig, was er tun sollte, setzte er sich dem Fremden gegenüber und gab Petersen mit einer Handbewegung zu verstehen, es ihm gleich zu tun. Inzwischen quälte ihn der Hunger nicht mehr so bestialisch, war aber dafür einer beinahe lähmenden Müdigkeit gewichen. Der Tag konnte unmöglich noch schlimmer werden.
„Guten Morgen“, sagte er und versuchte, ein möglichst neutrales Gesicht aufzusetzen.
Keine Reaktion. Der Fremde wirkte wie eine leere, menschliche Hülle, ein Körper ohne Seele. Merkwürdig . Unheimlich . Bader musste sich sehr zusammenreißen, um nicht wild vor dem Gesicht des Fremden herumzufuchteln, um irgendeine Reaktion zu provozieren. Irgendetwas, das ihn in irgendeiner Form hätte lebendig erscheinen lassen. Aber der Mann zeigte nicht die kleinste Regung, als wäre er ein lebloser Teil des Mobiliars.
„Können Sie uns sagen, wie Sie heißen?“, versuchte er es erneut. „ Hallo? Hören Sie mich?“
Kein Zucken, kein Blinzeln, kein Nicken. Nichts .
Zögernd rieb sich Bader das Kinn. So etwas hatte er in seiner langen Berufslaufbahn noch nicht erlebt. Er war Polizist, kein Psychiater, verdammt! Er kam sich allmählich etwas dämlich vor. Genauso gut hätte er versuchen können, mit einer Steinmauer eine angeregte Unterhaltung zu führen. Und trotzdem gab er nicht auf. Irgendwie überkam ihn das nagende Gefühl, dieses eingefallene Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Er kam aber partout nicht darauf, wo.
Müde rieb er sich den Nacken. Er musste unbedingt in sein Bett.
„Der Kerl ist nicht ganz dicht“, schimpfte Petersen und fuhr sich mit seiner Hand über seine feuchte Glatze.
„Bitte, Heinrich!“, tadelte ihn Bader unwirsch. „Damit machst du es nicht besser.“
„Nein, ernsthaft!“, ereiferte sich Petersen und zeigte mit beiden dicklichen Armen empört auf den Mann. „Sitzt hier einfach nur, sagt nichts und macht nichts. Mir wäre inzwischen schon der Arsch eingeschlafen, wenn ich hier so lange regungslos sitzen würde.“
„Der ist dafür ja auch groß genug.“
„Mein Gott, wo nimmst du nur immer diese Witze her!? Du hättest zum Fernsehen gehen sollen.“
„Ja, vielleicht“, murmelte Bader gleichgültig. Er beugte sich nach vorne, um dem Fremden direkt in die Augen sehen zu können. Seine Pupillen zeigten keine Reaktion. Er schien noch nicht einmal zu blinzeln. Baders Augen fingen bereits vom Zusehen an zu brennen. Er wischte sich mit dem Handrücken über seine Augenlider und seufzte gequält auf.
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