„Es tut mir leid“, erwiderte Alex ruhig. „Meine kleine Tochter müsste mal auf die Toilette.“ Er versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. Er war nicht sicher, ob es ihm gelang.
„Nicht jetzt! Sie wird es sich verkneifen müssen.“
Die Pistole schwenkte kurz zu Christina und Lea, dann wieder zurück auf Alex.
Alex hob die Handflächen in einer defensiven Geste. „Sie ist zwei Jahre alt. Sie versteht nicht, was hier los ist. Ich bitte Sie, Herr…“ Alex hielt für eine kurze Zeit inne, als würde er überlegen. „Ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen. Ich bin Alex.“ Er streckte vorsichtig seine Hand nach vorne aus.
Für einen kurzen Moment starrte der Mann ihn irritiert an. „Heinz“, murmelte er nach einer Weile, allerdings ohne die Hand zu schütteln.
„Heinz“, wiederholte Alex zufrieden. „Haben Sie auch Kinder?“
Der Bankräuber namens Heinz war sichtlich aus dem Konzept geraten. Das erste Mal, seitdem er in das Geldinstitut gestürmt war, schien seine Wachsamkeit etwas nachzulassen. Selbst seine Augen, die permanent nervös an der Eingangstür hängen blieben, verweilten eine Zeitlang auf Lea und kamen etwas zur Ruhe.
„Ja, auch eine Tochter“, sagte er irgendwann gedankenverloren. „Sie ist auch blond. Ein kleiner Engel. So wie du.“ Seine Stimme klang fast zärtlich. Er versuchte, Lea zu streicheln, aber das verschreckte Kind versteckte ihren Kopf unter dem Arm ihrer Mutter.
„Wo ist Ihre Tochter jetzt?“, versuchte Alex erneut, die Aufmerksamkeit des Geiselnehmers auf sich zu lenken.
„Bei meiner Ex-Frau. Sie hat mich verlassen.“
Es war nicht schwer, den Bankräuber in ein Gespräch zu verwickeln. Er wirkte fast, als wäre er froh, sich ein wenig von seinem emotionalen Ballast von der Seele reden zu können. Alex hatte sich nicht geirrt. Er war kein eiskalter Verbrecher, sondern einfach jemand, der aus abgrundtiefer Verzweiflung heraus gehandelt hatte, oder zumindest fest davon überzeugt zu sein schien, keine andere Wahl gehabt zu haben.
„Möchten Sie Ihre Tochter weiterhin sehen?“
Überrascht starrte Heinz Alex in die Augen. „Natürlich! Was soll diese dämliche Frage?“, knurrte er.
„Und warum machen Sie dann so einen Blödsinn?“ Alex machte eine Geste, die den ganzen Vorraum umfasste. „Sehen Sie sich um. Sehen Sie in die Augen dieser Menschen. Sie alle haben Familie, so wie Sie. Sie alle wollen nach Hause. Aber sie können nicht. So wenig wie Sie.“
„Wieso?“, fragte Heinz mit starrem Blick. Er wirkte unglaublich begriffsstutzig. „Was soll das heißen?“
„Was glauben Sie, wird die Polizei mit Ihnen machen? Bewaffneter Raubüberfall? Sie werden für Jahre in den Knast wandern. Wenn Sie entlassen werden, ist Ihre Tochter fast erwachsen.“
„Aber ich tue das doch nur für sie! Damit wir zusammen sein können“, verteidigte sich der Bankräuber schwach. Sein Blick ruhte auf Lea, die leise in Christinas Armbeuge weinte. „Ich brauche doch das Geld, damit wir eine Zukunft zusammen haben!“
Alex schüttelte sanft den Kopf.
„Das Geld wird Ihnen nicht helfen. Im Gefängnis können Sie kein guter Vater für Ihre Tochter sein.“
„Was soll ich also machen?“
„Ergeben Sie sich“, forderte Alex mit sanfter Stimme. „Stellen Sie sich der Polizei und kooperieren Sie. Machen Sie die Sache nicht noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist.“
Die Lider des Bankräubers flatterten leicht, als er Alex Blick unsicher erwiderte.
„Ich weiß nicht…“, überlegte er leise, senkte aber trotzdem langsam seine Waffe.
Alex schöpfte Hoffnung. „Sehr gut“, murmelte er, doch sein flüchtiges Lächeln erstarb im selben Augenblick auf seinen Lippen. Mit einem lauten Knall zerbarst eine der großen Schaufensterscheiben und schickte einen feinen Regen aus Glas in den Eingangsbereich. Mit einem lauten Poltern flog eine Dose in den Raum, die einen dichten Nebel verströmte. Der Nebel brannte in den Augen; Alex konnte den Geiselnehmer kaum noch erkennen.
„Nein“, schrie Alex entsetzt, doch es war zu spät. Er war nicht in der Lage, die Geschehnisse zu verhindern, die unaufhaltsam ihren Lauf nahmen. Durch den dicken Dunst konnte er sehen, wie durch das Loch in der Eingangstür dunkle Gestalten in die Bank stürmten und endgültig das Schicksal der Anwesenden besiegelten.
Der Mann, der langsam die steinernen Treppenstufen hoch schlurfte, hatte beinahe nichts Menschliches mehr an sich. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, umrahmt von einem eingefallenen, gräulichen Gesicht. Dunkle Stoppeln auf seinen Wangen deuteten darauf hin, dass er bereits seit Tagen mehrere Rasuren ausgelassen hatte. Seine Haare waren dünn und ungepflegt und glänzten im fahlen Licht des beginnenden Tages leicht fettig. Er schien kaum noch die Kraft zu besitzen, seine Füße zu heben. Mit jedem Schritt scharrten seine Gummisohlen über die Steine der Stufen. Dennoch trieb ihn irgendeine innere, unbarmherzige Kraft voran; Schritt für Schritt auf das Gebäude zu, das am Ende der Stufen auf ihn wartete.
Seine Kleidung, die mit Sicherheit vor einiger Zeit eine nicht unerhebliche Stange Geld gekostet hatte, hing ungepflegt an seinem ausgemergelten Körper. Der ehemals blaue Anzug war zu einem schmutzigen Ton verblichen und das fleckige, nur noch bedingt weiße Hemd hing über seiner Hose.
Kaum jemand beachtete den heruntergekommen Mann. Es war noch zu früh am Morgen. Nur die Sonne wagte sich mit der ihr eigenen Gemächlichkeit langsam über den Horizont hervor; die meisten Menschen hingegen hatten sich noch nicht auf die Straße getraut. Die wenigen Passanten, die bereits auf dem Weg zu ihrer Arbeit waren und dem Mann einen flüchtigen Blick schenkten, schauten sofort wieder weg. Er war ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig, befanden sie mit einer Arroganz, die nur Menschen aufbringen konnten, die kein Mitleid für die Nöte und Sorgen ihrer Mitbürger empfanden. Sie hatten alle mit ihren eigenen, kleinlichen Allerweltsproblemen zu kämpfen. In ihrem engstirnigen Denken war kein Platz für Empathie.
Sie wären vielleicht nicht so leichtfertig an ihm vorübergegangen, wenn sie ihm einen etwas längeren Blick geschenkt hätten. Dann wäre ihnen aufgefallen, dass er, nur halb vom Ärmel seines ausgeleierten Jacketts verdeckt, eine Pistole in der Hand trug. Und die rot-braunen Flecken, die seine Kleidung verunzierten, wiesen eine frappierende Ähnlichkeit mit geronnenem Blut auf.
Und so erreichte er unbehelligt den Haupteingang des Gebäudes. Auch die Polizeistation dämmerte noch in ihrer frühmorgendlichen Tatenlosigkeit dahin, lange bevor wie an jedem anderen Tag die alltägliche Hektik die Menschen völlig vereinnahmte und ihnen kaum noch Zeit zum Atmen lassen würde.
Doch an diesem Morgen war es mit der Ankunft des Unbekannten früh mit der beschaulichen Ruhe vorbei. Der Mann hatte gerade die große Eingangstür aufgestoßen, als er in das Blickfeld einer Putzfrau geriet, die oberflächlich eine der Besucherbänke abstaubte, um nicht allzu unbeschäftigt auszusehen. Im Gegensatz zu allen anderen Menschen war sie froh über ein bisschen Ablenkung und musterte den Neuankömmling neugierig. Doch was sie sah, gefiel ihr gar nicht. Sie fing an zu schreien, schrill und durchdringend, in einer Lautstärke, die den wachhabenden Polizisten hinter der Glasscheibe hochschrecken ließ. Sein heißer, dampfender Kaffee ergoss sich über seine blaue Diensthose.
„Verflucht!“, schrie er auf. Doch als er wütend nach dem Grund für die unerwünschte Störung suchte, vergaß er schlagartig den Schmerz unter dem dünnen Stoff seiner Unterhose. Der Mann stand inmitten des Eingangsbereichs, als wäre er zur Salzsäule erstarrt. Die Waffe baumelte in seiner rechten Hand.
Der Polizist reagierte sofort. Er zog seine Dienstpistole und stürmte hinter seinem Empfangsschalter hervor. „Lassen Sie Ihre Waffe fallen!“, forderte er, während er sich Schritt für Schritt der unbekannten Bedrohung näherte, seine Pistole direkt auf den Kopf des Fremden gerichtet. Seine Stimme zitterte leicht. Er war noch jung und hatte bisher noch keine brenzligen Situationen meistern müssen. Vor allem nicht alleine. „Legen Sie Ihre Waffe auf den Boden! Vorsichtig!“, brüllte er erneut, als der Mann nicht reagierte. „Sofort!“
Читать дальше