1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Bei dem Versuch, sich dem Platonischen Verständnis der Ideen zu nähern, erweist es sich als ratsam, zwei Fragen zunächst getrennt zu behandeln, die sich thematisch zwar überschneiden, sich in der Diskussion aber beide als eigenständige Gesichtspunkte der Philosophie Platons erwiesen haben. Dabei geht es erstens um die Ideen selbst und die Frage, worum es sich bei ihnen genau handelt und wo sie sich eigentlich befinden, und zweitens um das Verhältnis der Ideen zu den Dingen, die keine Ideen sind – um mit einer solchen Formulierung zunächst einmal alle Möglichkeiten offen zu halten.
Die Beantwortung der ersten Frage kann relativ übergangslos an dem anknüpfen, was bereits im letzten Kapitel im Zusammenhang mit Sokrates zur Sprache gekommen und dort als dessen Position geschildert worden war [30]!. Diese zeigt sich unter anderem in einem Gespräch, das Sokrates mit Euthyphron über die Frömmigkeit führt:
Oder ist nicht das Fromme dasselbe und sich selbst gleich in jedem Handeln und das Unfromme wiederum zwar allem Frommen entgegengesetzt, sich selbst aber gleich, indem alles, was unfromm sein wird, seine Gestalt gemäß der Unfrömmigkeit hat? [31]!
Was bei der Schilderung der Sokratischen Position noch als bloße Frage nach dem Allgemeinen erschien, bekommt jetzt, also im Lichte der parmenideisch-platonischen These von der Unveränderlichkeit des Wahren, eine deutlich andere Färbung. Denn damit werden nun die beiden Themenstränge der Wahrheit und der Ewigkeit mit dem der Idee zusammengeführt. Die Ideen sind also zunächst offensichtlich thematisch so aufgeteilt wie die ‚normalen’ Dinge der Welt (das Fromme, das Unfromme etc. [32]!), im Unterschied zu diesen gibt es von ihnen aber nicht mehrere Vorkommnisse, sondern immer nur eine Einheit, die darüber hinaus stets gleich bleibt.
Durch die Verknüpfung von Wahrheit und Unveränderlichkeit kommt den Ideen also ein höherer ontologischer Status zu als den gewöhnlichen Dingen:
Denn es handelt sich jetzt bei unserer Untersuchung nicht vorzugsweise um das Gleiche, sondern ebenso um das Schöne an sich und um das Gute an sich und um das Gerechte und um das Fromme und […] um alles, dem wir den Stempel des ‚Seins an sich’ aufdrücken […]. [33]
Die Frage, was die Ideen sind, ist natürlich von der nach ihrem Ort nicht wirklich zu trennen. Für Sokrates, ob er nun nach dem Allgemeinen oder aber tatsächlich nach den Ideen gefragt haben sollte, scheint die Antwort festzustehen: Das Fromme ist in jedem Handeln, die Ideen sind für Sokrates zunächst lebenswelt immanent [34]!– sie befinden sich also in der gleichen Sphäre wie ihre gewöhnlichen Pendants.
Soweit jedenfalls das bekannte Bild vom an der Praxis orientierten und lebensnahen Sokrates. Es gibt allerdings zu den Ideen – wenn man im Zusammenhang mit ihm davon sprechen möchte – aus der Sicht von Sokrates noch etwas mehr zu sagen, was vor allem ihren Ort betrifft. Denn bereits in der Apologie bringt er das menschliche Wissen sehr eng mit der techné , also dem Gedanken des Herstellens von etwas in Verbindung. Und in diesem Zusammenhang kann nun von einer Sphärengleichheit von den Ideen und den gewöhnlichen Gegenständen nicht mehr gesprochen werden. Denn für Sokrates ist das Herstellen – wenn es nicht „planlos und ziellos” [35]vor sich gehen soll – immer an eine Idee gebunden [36]!, die der Hersteller vor der eigentlichen Herstellung erfasst.
Diese Tatsache mindert weder die Orientierung an der Praxis durch Sokrates (denn die Ideen sind ja immer noch handlungsleitend) noch den Status der Ideen als wahres Sein (schließlich bleiben sie das, was in allen Handlungen gleich ist und einen wiederholten Handlungsvollzug ermöglicht). Es bedeutet aber, dass Ideen und Handlungen nicht mehr in der selben Sphäre zu verorten sind, denn die vor einer Handlung erfasste Idee und die Handlung selbst fallen nicht in einem Punkt zusammen, sondern sind getrennt.
Allerdings will Sokrates, wie gesagt, mit dieser Trennung kein von der Lebenswelt isoliertes akademisches Wissen etablieren, man hat die Ideen im Zusammenhang mit ihm daher auch als Handlungswissen bezeichnet [37]!. – Dabei ist der Handlungsbegriff bei Sokrates so weit gefasst, dass er in seine Argumentation sowohl handwerkliche als auch verbale Aktionen einbetten kann, wie das folgende Zitat zeigt:
Sag, der gute Mann, das heißt der, der auf das Beste hin redet, wird doch nicht planlos und ziellos sagen, was er sagt, sondern indem er hinschaut auf etwas, wie auch alle anderen [!] Handwerker auf ihr Werk hinschauen? Keiner von ihnen verwirklicht etwas, indem er planlos und ziellos dieses und jenes aufsammelt, sondern damit das, was er verwirklicht, durch ihn eine bestimmte Gestalt habe. [38]
Und diese Gestalt ist eben die idea , auf die er bereits vor der Handlung ‚hingeschaut’ hat. Die Wortwahl macht auch darauf aufmerksam, dass jeder erkenntnistheoretische Diskurs in der griechischen Antike insofern unter von den heutigen sehr verschiedenen Vorzeichen stattfand, als das Denken als menschlicher Weltzugang noch lange nicht so etabliert und begrifflich ausgestattet war wie in der Gegenwart. Denn obwohl die Orientierung an der Idee geistiger Natur ist, ist das Wort, das den Zugriff auf sie beschreibt, der Sinnlichkeit entnommen: hinschauen [39]!.
Für Sokrates existieren also vor und unabhängig von konkreten Handlungen Ideen, die den Menschen hinsichtlich seiner jeweiligen Handlung leiten können – eine andere Funktion haben sie nicht. Dennoch ist damit, was den Ort der Ideen angeht, eine oft Platon zugeschriebene Ansicht etabliert: dass nämlich Ideen und Nicht‐Ideen in zwei getrennten Sphären existieren. Für diese auch als Zwei‐Welten‐Lehre bezeichnete Ansicht ist später – u.a. von Aristoteles – ausdrücklich Platon und nicht Sokrates kritisiert worden [40]!, was wohl bereits aufgrund der Tatsache zurückgewiesen werden muss, dass Platon den Gedanken einer solchen Sphären-Trennung im Parmenides ablehnt – ihn aber dort interessanterweise ausdrücklich von Sokrates vortragen lässt.
Was im Parmenides allerdings auf Platon zurückgeht, ist der Gedanke, dass die Ideen nicht nur auf menschliche Handlungen zu beschränken sind, sondern prinzipiell jedem Ding eine Idee entspricht [41]. Damit ist in Bezug auf die Bedeutung dieses Themas eine massive Erweiterung verbunden, die nicht mehr nur das Feld des praktischen Handelns in der Lebenswelt, sondern potentiell auch Bereiche wie die Ontologie, eher abstrakte Erörterungen zur Moral sowie die Wissenschaft abdeckt. Darüber hinaus hatte Platon bereits im Symposion klargestellt, dass für ihn die Ideen nicht nur den Status bloßer Begriffe haben, sondern tatsächlich selbständig (und vor allem unabhängig von ihrem erkannt Werden durch den Menschen) existieren [42]!.
Wie seine Kritiker in der Folgezeit immer wieder angemerkt haben, stellen sich Platon mit diesen beiden Denkelementen, also der Universalität der Ideen und ihrer Realität, diverse Probleme in den Weg, die er ihrer Ansicht nach nicht gänzlich aus der Welt schaffen kann: Ganz abgesehen von der gewöhnungsbedürftigen Vorstellung einer idealen Entsprechung von Krankheiten und anderen negativen Dingen ist – gerade angesichts von Platons an der Welt geäußerten Kritik hinsichtlich ihrer Abweichung von den Ideen – unklar, wie sich die Zuordnung beider Bereiche vollziehen soll. Ist zum Beispiel ein verfallenes Haus eine schlechte Manifestation der Idee des Hauses – oder aber umgekehrt eine perfekte Manifestation der Idee eines verfallenen Hauses? Platon selbst wird solche Fragen in seinen späteren Dialogen aufgreifen, nach Meinung vieler seiner Interpreten aber nicht wirklich befriedigend beantworten können.
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