»Sie haben in Lübeck angefragt?«
»Ja, und wir haben auch schon Bescheid: keine Vermißtmeldung. Was machen wir nun?« Er sah den Schauspieler auffordernd an. Als der aber schwieg, fuhr er vorsichtig fort: »Wir haben Ihren Wunsch respektiert, Herr Babendererde, und in Lübeck noch nichts von Ihren Mitteilungen gesagt. Der Chef, Professor Eicken, meint aber – vielmehr, er läßt Sie bitten, uns jetzt von diesem Schweigegebot zu entbinden.«
Babendererde stand nachdenklich da. Doktor Altpeter sagte überredend: »Ich finde auch, Gerd, das könntest du ruhig tun. Es ist ja nichts Entehrendes, der Mutter mal auszureißen.«
Und der junge Arzt: »Sie übernehmen unter Umständen eine erhebliche Verantwortung. Die Verwandten könnten Ihnen später Vorwürfe machen.«
»Ganz das, was ich ihm schon gesagt habe!« rief Altpeter.
Babendererde sagte: »Erst möchte ich sie einmal sehen, Herr Doktor. Vielleicht können Sie mich ein paar Minuten mit ihr allein lassen? Ich hoffe, sie reagiert auf mich.«
Die beiden Ärzte wechselten einen raschen Blick. Dann sagte der junge Doktor: »Bitte schön, ich habe da keine Bedenken. Wenn ich vorausgehen darf?«
Sie gingen zu dritt über den langen weißen Korridor. Manche Türen standen offen, beim Schein von Nachtlampen sah man Schwestern neben Betten sitzen, auf denen Weißverhülltes stumm oder schmerzlich seufzend lag. Es roch stark nach Verbandzeug, nach Jodoform, Äther, Karbol – ein Gemisch von Gerüchen, das Babendererde nicht ungern atmete. Wie viele Menschen erregte ihn dieser Geruch, der an Wunden und Schmerz erinnerte, rührte an seinem Lebenswillen, machte ihn bewußter und wacher.
Vor einer Tür blieb der Arzt stehen.
»Wir haben ihr ein Einzelzimmer gegeben«, sagte er. »Auch eine Nachtschwester ist bei ihr, für den Fall, daß sie doch sprechen sollte, und …«
»Zur Beobachtung?« fragte Doktor Altpeter.
»Ja, gewiß.« Und leise zum Kollegen: »Die Wahrheit zu sagen, wir sind eine Spur zweifelhaft – wegen des Schocks, Sie verstehen?« Der junge Arzt öffnete die Tür: »Bitte sehr, meine Herren.« Und zu der Kranken: »Sehen Sie, da ist Herr Babendererde schon, er ist direkt vom Theater hergekommen. Er hat einen Arzt mitgebracht, solche Sorgen machen Sie ihm.«
Die Schwester war vom Bett zur Seite getreten. Die Kranke lag auf dem Rücken, das Gesicht sehr weiß im Kranz der dunklen Haare. Sie sah nicht auf den Besucher, sie blickte gerade vor sich hin, über das Fußende des Bettes fort, in einen Winkel des Zimmers, ins Ziellose.
Das gedämpfte Licht der Nachtlampe erhellte ihr Gesicht: der Mund war so fest geschlossen, daß die Lippen nur wie ein dunkler Strich wirkten. Wenn Babendererde noch eine leise Hoffnung gehabt hatte, es könnte hier ein anderes Mädchen liegen – wie viele Mädchen liefen vielleicht mit seiner Adresse im Täschchen herum! –, es möchte nicht die so hart behandelte Sängerin aus dem Treppenhaus sein, so war es mit dieser Hoffnung jetzt vorbei. Sie war es – und sie sah mehr denn je wie die Ilsebill aus, nach deren Kopf die Welt zu gehen hat.
»Nun, Schwester, etwas Neues, eine Änderung?« fragte der Arzt.
· · ·
Während die beiden miteinander flüsterten, war Babendererde an das Bett getreten. Er legte seine Hand leise über die der Kranken und sagte halblaut: »Ja, Fräulein Ilse, da bin ich! Als Kinder hatten wir einen Reim: ›Die Ilse, die Ilse, keiner will se! Da kam der Koch und nahm sie doch!‹ Also bin ich gekommen, ich schlechter Koch, der die Suppe versalzen hat.« Ganz überraschend zauberte er aus der weiten Tasche seines Automantels ein Sträußlein Maiglöckchen: »Es ist Frühling draußen, Fräulein Ilsebill, da werden Sie doch nicht im Bett liegen wollen?!«
Doktor Altpeter, im Hintergrund, blickte seufzend seinen Kollegen an. »Haben Sie das gesehen?« fragte er, »Babendererde bringt Blumen, und zwar heimlich besorgte! Nun haben wir zwei Kranke!«
»Meinen Sie wirklich?«
»Natürlich meine ich das! Er bildet sich ein, er hat Gewissensbisse – aber er ist einfach verliebt! Und er merkt es nicht einmal!«
»Nun«, sagte der junge Arzt und lachte, »vielleicht wird sie es ihm sagen. Das wäre ein ganz lohnender Anfang mit dem Wieder-Sprechen-Können! Kommen Sie, Herr Kollege, kommen Sie, Schwester, wir wollen die beiden für fünf Minuten einander überlassen!«
Die Hand hatte kühl und unbewegt unter der seinen gelegen, das Auge hatte unverändert in den Zimmerwinkel gesehen und nicht auf das Sträußchen. Babendererde zog einen Stuhl heran und setzte sich an das Bett.
»Mein Kind«, sagte er, und ganz unbewußt legte er all seine Kunst in diese Worte, jene Kunst, die ihm die Zuneigung so vieler verschafft hatte. »Mein liebes Kind«, sagte er noch einmal, und seine Stimme ließ dabei dunkel ein tieferes Gefühl mitschwingen. »Ich bin heute recht häßlich zu Ihnen gewesen. Ich habe es gleich bereut. Ich sah Ihnen vom Balkon nach, und schon da wollte ich Ihnen folgen und sagen, daß Sie schön gesungen haben, sehr schön. Eines Tages werden Sie eine große Sängerin sein!«
Er schwieg einen Augenblick, sah sie an, die unverändert in ihren Kissen lag. Dann begann er von neuem: »Ich bin Ihnen nicht nachgegangen, leider nicht. Da ist immer so vieles, das einen ablenkt, das von dem Eigentlichen, dem allein Wichtigen fortzieht. Sie, die sich schon mit der Kunst beschäftigt haben, die schon ein Stück Künstlerin sind, werden es bereits wissen, daß unsere Kunst den ganzen Menschen braucht, unzersplittert. Sie ist eine sehr eifersüchtige Geliebte, diese Kunst, sie gibt sich nur dem, der ihr ganz gehören will. So verstehen Sie, daß ich bei Ihrem Kommen, Ihrem Gesang, bei Ihrem Fortgehen nur dachte: Laß dich in nichts ein! Du kannst ihr kaum helfen, und dir selbst schadest du so sehr!«
Wieder machte er eine Pause. Wie immer, wenn er von sich und seinem Verhältnis zur Kunst sprach, hatte er alles andere darüber vergessen. Er glaubte jedes Wort, das er sagte, er dachte nicht mehr daran, daß er sie nur darum so brüsk fortgeschickt hatte, weil er in ihren Augen jenen Liebesblick gesehen zu haben meinte, dem er sich im Interesse seiner Arbeit so lange schon versagte. Das war die fixe, sein ganzes Tun und Denken beherrschende Idee geworden, daß er alles meiden müsse, um ganz Künstler zu sein. Wenn er frisch war, dachte er kaum an derartiges. Die schwerste Leistung wurde ihm leicht. Aber je abgearbeiteter er wurde, je gereizter seine Nerven auf die kleinste Störung reagierten, um so mehr klammerte er sich daran, daß er alles meiden müsse, um Großes zu erreichen.
Seit über einem Jahr hatte er sich keine Woche Freizeit gegönnt. Immer hatte er abends auf der Bühne gestanden, nachdem ein langer Arbeitstag ihn in den Ateliers der Filmgesellschaften schon übermäßig beansprucht hatte. Er war mit seinen Nerven zu Ende. In gesünderen Tagen hätte er der fortgeschickten Ilsebill nicht einen Gedanken mehr gegönnt, er hätte ihr kaum vom Balkon aus nachgesehen. Aber jetzt in dem inneren Zwiespalt, da ein tiefes Ruhebedürfnis mit seinem Arbeitsgewissen in Streit lag, bildete er sich ein, er habe eben durch dieses Wegschicken eine Schuld auf sich geladen, die ihn so lange zu jeder Leistung unfähig machte, bis die Schuld getilgt war.
»Sehen Sie«, sagte er plötzlich, »ich habe heute abend im Theater zum ersten Mal umgeschmissen. Ich bin steckengeblieben. Das ist mir in meiner ganzen Schauspielerlaufbahn noch nie passiert. Und gerade bei dem Lied, das Sie mir vorgesungen haben – ist das nicht seltsam?« Und er summte leise: »Die Stunde, eh’ du schlafen gehst, die schenk du mir, die schenk’ ich dir … – Ja, und nun habe ich mit Ihnen gesprochen, und es wird Zeit für Sie zu schlafen. Aber ich wollte Ihnen dies alles doch sagen. Ich werde für Sie da sein, wenn Sie wieder singen können …?« fragte er plötzlich, und die tiefe Angst, die er seines eigenen Schicksals wegen bei ihrem Schweigen empfand, brach unvermittelt durch. Er versuchte sich selbst zu beruhigen: »Natürlich! Selbstverständlich werden Sie wieder singen können, morgen schon, oder doch übermorgen! Doktor Altpeter sagt auch, es ist nur der Schreck, so etwas geht rasch vorbei …«
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