Der Butler ging hinunter ins Bedientenzimmer, wo er, beiläufig gesagt, den unschuldigen Lakaien, seinen Untergebenen, mit den fürchterlichsten Flüchen überhäufte.
„Wie können Sie sich die Sache so zu Herzen nehmen, Miss Briggs“, meinte die junge Dame mit kühler, etwas sarkastischer Miene.
„Meine liebe, liebe Freundin ist so krank und wi... i... i... i... i... ill mich nicht sehen“, gurgelte die Briggs in einem neuen Schmerzensausbruch hervor. „Sie ist nicht mehr sehr krank. Trösten Sie sich, teure Miss Briggs. Sie hat nur zuviel gegessen – das ist alles. Es geht ihr schon bedeutend besser. Bald wird sie wiederhergestellt sein. Sie ist noch schwach vom Schröpfen und von der ärztlichen Behandlung, wird sich aber bald erholen. Beruhigen Sie sich doch bitte und trinken Sie noch ein bißchen Wein.“
„Aber warum, warum will sie mich nicht sehen?“ plärrte Miss Briggs. „Oh, Matilda, Matilda, ist das nach dreiundzwanzig Jahren zärtlicher Liebe der Dank für deine arme, arme Arabella?“
„Weinen Sie doch nicht, arme Arabella“, sagte die andere mit einem kaum merklichen Lächeln, „sie will Sie nur deshalb nicht sehen, weil sie sagt, ich pflegte sie besser als Sie. Es ist für mich kein Vergnügen, die ganze Nacht aufzubleiben. Ich wünschte, Sie könnten es an meiner Stelle tun.“
„Habe ich nicht viele Jahre lang das teure Lager bewacht?“ fragte Arabella. „Und jetzt...“
„Jetzt zieht sie eben jemanden anders vor. Kranke haben nun einmal ihre Grillen, und man muß ihnen ihren Willen lassen. Wenn sie wieder gesund ist, werde ich gehen.“
„Nie, niemals“, rief Arabella und roch wie wahnsinnig an ihrem Riechfläschchen.
„Nie wieder gesund sein oder nie gehen, Miss Briggs?“ fragte die andere mit derselben herausfordernden Gutmütigkeit. „Pah – in vierzehn Tagen ist sie wieder auf den Beinen, und dann gehe ich zu meinen kleinen Schülerinnen nach Queen's Crawley und zu deren Mutter zurück, die weit kränker ist als unsere Freundin. Sie brauchen nicht eifersüchtig auf mich zu sein, meine liebe Miss Briggs. Ich bin ein armes kleines Mädchen ohne Freunde und tue keinem was zuleide. Ich will Sie gar nicht aus Miss Crawleys Gunst verdrängen. Wenn ich eine Woche fort bin, wird sie mich vergessen haben. Ihre Freundschaft dagegen ist das Werk von vielen Jahren. Bitte, geben Sie mir ein bißchen Wein, meine liebe Miss Briggs, wir wollen Freundinnen sein. Ich brauche Freunde so sehr.“
Die versöhnliche und weichherzige Miss Briggs reichte ihr auf diese Bitte hin wortlos die Hand, aber trotzdem traf sie die Abtrünnigkeit tief, und sie beklagte heftig die Unbeständigkeit ihrer Matilda. Als nach einer halben Stunde das Essen vorüber war, verfügte sich Miss Rebekka Sharp (denn so heißt sie merkwürdigerweise, die bisher sinnreich als „das junge Mädchen“ beschrieben worden ist) wieder in die Zimmer ihrer Patientin und komplimentierte mit ausgesuchter Höflichkeit die arme Firkin wieder hinaus. „Ich danke Ihnen, Mrs. Firkin, das genügt vollkommen; wie nett Sie das machen! Ich werde klingeln, wenn etwas benötigt wird. Ich danke Ihnen.“ Und die Firkin kam herab in einem Sturm der Eifersucht, der um so gefährlicher war, als sie ihn im Busen verbergen mußte.
War es wohl dieser Sturm, der die Salontür aufblies, als sie am Treppenabsatz des ersten Stockes vorüberging? Nein, sie wurde verstohlen von der Hand der Briggs geöffnet. Die Briggs hatte auf der Lauer gelegen. Nur zu gut hatte die Briggs die zähneknirschende Firkin die Treppe herabkommen und den Löffel in der Haferbreischüssel, die die vernachlässigte Frau trug, klappern hören.
„Nun, Firkin?“ sagte sie, als die andere ins Zimmer trat. „Nun, Jane?“
„Schlimmer und schlimmer, Miss Briggs“, sagte die Firkin kopfschüttelnd.
„Es geht ihr also nicht besser?“
„Sie hat nur ein einziges Mal gesprochen. Ich habe sie gefragt, ob sie sich etwas wohler fühle, und sie hat mir geantwortet, ich solle meinen dummen Mund halten. Oh, Miss B., dass ich diesen Tag noch erleben mußte!“ Und die Wasserspiele setzten erneut ein.
„Was für ein Mensch ist diese Miss Sharp eigentlich, Firkin? Ich habe es mir nicht träumen lassen, als ich das Weihnachtsfest in dem vornehmen Hause meiner treuen Freunde, Ehrwürden Lionel Delameres und seiner liebenswürdigen Gattin, zubrachte, zu entdecken, dass eine Fremde meinen Platz im Herzen meiner teuersten, immer noch teuersten Matilda eingenommen hat!“ Wie man aus der Sprache der Miss Briggs ersehen kann, war sie eine literarisch gebildete und sentimentale Dame. Sie hatte schon einmal einen Band Gedichte mit dem Titel „Das Schluchzen der Nachtigall“ auf Subskription herausgegeben.
„Alle sind wie vernarrt in dieses junge Frauenzimmer, Miss B.“, erwiderte die Firkin. „Sir Pitt hätte sie gar nicht gehen lassen, aber er wagte nicht, Miss Crawley etwas abzuschlagen. Mrs. Bute im Pfarrhause ist genauso schlimm – sie ist nicht glücklich, wenn sie sie nicht sieht. Der Hauptmann ist ganz verrückt nach ihr, Mr. Crawley kannibalisch eifersüchtig. Seit Miss Crawley krank ist, will sie niemanden um sich haben als Miss Sharp; ich kann überhaupt nicht sagen, wie oder warum; ich stell mir nur vor, irgendwas hat alle verhext.“
Rebekka verbrachte jene Nacht wachend bei Miss Crawley. In der nächsten Nacht schlief die alte Dame so ruhig, dass Rebekka einige Stunden auf dem Sofa am Fußende ihrer Gönnerin schlafen konnte; und sehr bald war Miss Crawley wieder so wohlauf, dass sie aufsitzen konnte und über die vollendete Nachahmung von Miss Briggs und ihrem Kummer, die Rebekka ihr vorführte, herzlich lachte. Miss Briggs' tränenreiches Geschnüffel und ihre Art, das Taschentuch zu gebrauchen, waren so täuschend wiedergegeben, dass Miss Crawley ganz lustig wurde, zur großen Verwunderung der Ärzte, denn gewöhnlich fanden sie bei ihren Besuchen diese würdige Dame von Welt bei der geringsten Krankheit total niedergeschlagen und von Todesfurcht erfüllt.
Hauptmann Crawley kam täglich und ließ sich von Rebekka über das Befinden seiner Tante Bericht erstatten. Ihre Gesundheit verbesserte sich so schnell, dass die arme Briggs ihre Gönnerin besuchen durfte. Weichherzige Leser können sich die unterdrückte Rührung dieses sentimentalen Wesens und das liebevolle Gespräch vorstellen.
Bald wollte Miss Crawley die Briggs wieder häufiger um sich haben. Rebekka pflegte sie vor ihren eigenen Augen mit dem bewundernswertesten Ernst nachzuahmen und machte dadurch die Sache für ihre würdige Gönnerin doppelt pikant.
Die Ursachen, die zu Miss Crawleys beklagenswerter Krankheit und zu ihrer Abreise aus dem Haus ihres Bruders auf dem Lande geführt hatten, waren so unromantisch, dass sie sich kaum eignen, in diesem vornehmen, sentimentalen Roman erklärt zu werden. Denn wie kann man auch nur andeuten, dass eine feine Dame aus guter Gesellschaft zuviel gegessen und getrunken habe und dass der allzu reichliche Genuß von warmen Hummern bei einem Abendbrot im Pfarrhaus die Ursache eines Unwohlseins gewesen sei, das Miss Crawley selbst einzig und allein dem feuchten Wetter zuschrieb? Der Anfall war so heftig, dass Matilda – wie Seine Ehrwürden sich auszudrücken beliebte – nahe daran war, „ins Gras zu beißen“. Die ganze Familie war in fieberhafter Erwartung wegen des Testamentes, und Rawdon Crawley sah sich noch vor Beginn der Saison in London im Besitz von mindestens vierzigtausend Pfund. Mr. Crawley schickte ein Paket auserlesener Traktätchen, zur Vorbereitung des Augenblicks, wo sie den Jahrmarkt der Eitelkeit und die Park Lane mit einer anderen Welt vertauschen würde. Aber ein tüchtiger Arzt, der noch zur rechten Zeit von Southampton herbeigerufen worden war, bezwang den verhängnisvollen Hummer und brachte sie wieder so weit zu Kräften, dass sie nach London zurückkehren konnte. Der Baronet verhehlte nicht seinen heftigen Ärger über diese Wendung der Dinge.
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