Mit diesen Worten entfaltete Mr. Osborne die Abendzeitung, und George erkannte an diesem Zeichen, dass die Unterredung nun zu Ende sei und dass Papa ein Schläfchen machen wolle.
In bester Laune rannte er die Treppe hinauf zu Amelia. Wieso war er an jenem Abend so aufmerksam gegen sie wie schon lange nicht, so eifrig, sie zu unterhalten, so zärtlich, so glänzend im Gespräch? Schlug sein großmütiges Herz in der Voraussicht auf kommendes Unglück wärmer für sie? Oder schätzte er seine kleine, liebe Beute höher bei dem Gedanken, sie verlieren zu können?
Viele Tage noch zehrte Amelia von den Erinnerungen an jenen glücklichen Abend, sie entsann sich seiner Worte, seiner Blicke, des Liedes, das er gesungen hatte, seiner Haltung, als er sich über sie beugte oder sie aus der Ferne ansah. Ihr schien noch nie ein Abend in Mr. Osbornes Haus so rasch verstrichen zu sein, und diesmal war das junge Mädchen fast versucht, ärgerlich zu werden, als Mr. Sambo allzufrüh mit ihrem Schal auftauchte.
Am nächsten Morgen kam George und nahm zärtlich von ihr Abschied; dann eilte er in die City, wo er bei Mr. Chopper, dem Hauptbuchhalter seines Vaters, vorsprach. Von diesem Herrn erhielt er ein Dokument, das er bei Hulker und Bullock gegen eine ganze Tasche voll Geld tauschte. Als George das Haus betrat, kam der alte John Sedley gerade mit unglücklicher Miene aus dem Besuchszimmer des Bankiers. Sein Patensohn aber war viel zu froher Stimmung, um die Niedergeschlagenheit des würdigen Börsenmaklers oder die trostlosen Blicke, die der gute alte Herr ihm zuwarf, zu bemerken.
Der junge Bullock war dieses Mal auch nicht, wie in früheren Jahren, lächelnd mit ihm aus dem Besuchszimmer gekommen. Und als die Tür von Hulker, Bullock und Co. sich hinter Mr. Sedly schloß, winkte Mr. Quill, der Kassierer, dessen angenehme Aufgabe es war, knisternde Banknoten aus einer Schublade zu ziehen und mit einer Kupferschaufel Sovereigns auszuteilen, Mr. Driver, dem Kontoristen am rechten Pulte, zu. Mr. Driver winkte zurück.
„Geht nicht“, flüsterte Mr. Driver.
„Nein, auf keinen Fall“, sagte Mr. Quill. „Mr. George Osborne, wie hätten Sie es gern?“ Und George stopfte sich eifrig eine Anzahl Banknoten in die Tasche und bezahlte Dobbin noch am gleichen Abend fünfzig Pfund in der Offiziersmesse.
Am gleichen Abend schrieb ihm Amelia den zärtlichsten aller langen Briefe. Ihr Herz strömte über vor Zärtlichkeit, aber dennoch ahnte es Böses. Warum sah Mr. Osborne so finster aus? fragte sie. Hatte es zwischen ihm und ihrem Papa Streit gegeben? Ihr armer Papa kam so melancholisch aus der City zurück, dass daheim alle ängstlich wurden – kurz, es waren vier Seiten voller Liebe, Befürchtungen, Hoffnungen und Ahnungen.
„Die arme kleine Emmy – die gute kleine Emmy! Wie liebt sie mich doch“, sagte George, als er den Brief las. „Ach, mein Gott, was für Kopfschmerzen hat mir doch der gemixte Punsch gebracht!“ Wirklich, arme kleine Emmy!
14. Kapitel
Miss Crawley daheim
Etwa um dieselbe Zeit fuhr ein wappengeschmückter Reisewagen an einem ungemein hübschen und gut eingerichteten Haus in der Park Lane vor; auf dem Bedientensitz befand sich ein unzufriedenes weibliches Wesen mit grünem Schleier und gebrannten Locken, auf dem Bock saß ein dicker, vertrauenerweckender Mann. Es war die Equipage unserer Freundin Miss Crawley, die aus Hampshire zurückkam. Die Wagenfenster waren geschlossen, das fette Hündchen, dessen Kopf und Zunge sonst aus einem Fenster heraushing, ruhte auf dem Schoß des unzufriedenen weiblichen Wesens. Als der Wagen hielt, wurde ein großes rundes Bündel von Schals mit Hilfe verschiedener Diener und einer jungen Dame herausgehoben, die dieses Paket von Bekleidungsstücken begleitete. Das Bündel enthielt Miss Crawley, die sofort die Treppe hinaufgeführt und in ein Zimmer und Bett gebracht wurde, die wie zur Aufnahme einer Kranken gehörig gewärmt worden waren. Boten wurden geschickt, um ihre beiden Ärzte herbeizuholen. Diese kamen, berieten sich, verschrieben etwas und verschwanden wieder. Die junge Begleiterin von Miss Crawley kam am Ende der Besprechung herein, um Verhaltungsmaßregeln zu empfangen, und gab ihr dann die antiphlogistischen Arzneien ein, die die ausgezeichneten Männer verordnet hatten.
Hauptmann Crawley von der Leibgarde kam am nächsten Tage von der Kaserne in Knightsbridge angeritten; sein stattlicher Rappe scharrte im Stroh vor der Tür seiner kranken Tante. Er erkundigte sich sehr liebevoll nach dem Befinden seiner guten Verwandten. Es schien viele Gründe zur Besorgnis zu geben. Er fand Miss Crawleys Kammermädchen (das unzufriedene weibliche Wesen) außerordentlich mürrisch und niedergeschlagen; er fand Miss Briggs, ihre dame de compagnie, in Tränen und allein im Salon. Sie war nach Hause geeilt bei der ersten Nachricht von der Krankheit ihrer geliebten Freundin. Sie wollte an ihr Lager fliegen, an das Lager, dessen Kissen sie, Briggs, in Stunden der Krankheit oft glattgestrichen hatte. Allein der Zutritt zu Miss Crawleys Zimmer wurde ihr verwehrt. Eine Fremde gab ihr die Arznei ein ... eine Fremde vom Lande... eine abscheuliche Miss... Tränen erstickten die Worte der dame de compagnie, und so begrub sie denn ihre grausam zurückgewiesene Liebe und ihre arme, alte, rote Nase im Taschentuch.
Rawdon Crawley ließ sich durch die mürrische femme de chambre oben melden, und Miss Crawleys neue Gesellschaftsdame kam aus dem Krankenzimmer herangetrippelt, legte ihre kleine Hand in die seine, als er eifrig auf sie zuging, um sie zu begrüßen, und warf der völlig verwirrten Briggs einen höhnischen Blick zu. Dann winkte sie den jungen Leibgardisten aus dem Salon, führte ihn die Treppe hinab in das nun verlassene Speisezimmer, wo so manches gute Mahl eingenommen worden war.
Hier sprachen die beiden etwa zehn Minuten miteinander und erörterten zweifellos die Krankheit der alten Patientin droben. Nach Ablauf dieser Zeit wurde energisch die Speisezimmerklingel gezogen, und augenblicklich erschien Mr. Bowls, der dicke vertrauenerweckende Butler (der sich zufällig während des größten Teils der Unterredung am Schlüsselloche aufgehalten hatte). Der Hauptmann trat, seinen Schnurrbart zwirbelnd, heraus und bestieg den im Stroh scharrenden Rappen, zur großen Bewunderung der kleinen Gassenjungen, die sich in der Straße versammelt hatten. Er blickte zum Speisezimmerfenster und ließ sein Pferd tänzeln und eine prächtige Kapriole schlagen – einen Augenblick konnte man das junge Mädchen am Fenster sehen, dann verschwand ihre Gestalt, und ohne Zweifel stieg sie wieder die Treppe hinauf, um die zarten Pflichten der Wohltätigkeit wieder auf sich zu nehmen.
Wer mochte wohl dieses junge Mädchen sein? An jenem Abend war im Speisezimmer für zwei Personen gedeckt. Mrs. Firkin, die Kammerjungfer, machte sich, während die neue Krankenwärterin und Miss Briggs sich zu dem kleinen Mahl niederließen, ungestüm im Zimmer ihrer Herrin zu schaffen.
Die Briggs war so mitgenommen, dass sie kaum ein Bröckchen Fleisch essen konnte. Das junge Mädchen zerlegte ein Huhn mit der größten Sorgfalt und bat so bestimmt um die Eiersoße, dass die arme Briggs, vor der diese würzige Köstlichkeit stand, zusammenfuhr, ein gewaltiges Klapperkonzert mit dem Soßenlöffel vollführte und wieder in ihre rührselige Hysterie verfiel.
„Wäre es nicht besser, wenn Sie Miss Briggs ein Glas Wein gäben?“ sagte die Junge zu Mr. Bowls, dem dicken, vertrauenswürdigen Mann. Er tat es. Die Briggs griff mechanisch danach, stürzte es krampfhaft hinunter, stöhnte ein wenig und fing an, mit dem Hühnchen auf ihrem Teller zu spielen.
„Ich glaube, wir können uns selbst bedienen“, sagte die Junge mit größter Höflichkeit, „wir können daher auf die freundliche Hilfe von Mr. Bowls verzichten. Mr. Bowls, wir werden klingeln, wenn wir Sie benötigen.“
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