Da Elisa gern wissen wollte, wie Cagliostro über den protestantischen Pastor dachte, fragte sie ihn nach seiner Meinung, worauf er dozierte, Lavater sei der größte Physiognomist und die Physiognomik ein natürlicher Teil der Arzneikunde. Die Krankheiten lägen vor allem im Blut und in seiner Verteilung, weshalb der Arzt darauf besonders zu achten habe. Da die ganze Natur miteinander verwandt sei, müsse der Arzt sie umfassend kennen, vor allem auch die Gesetze der Chemie.
Elisa stutzte. Hatte sich nicht erst neulich beim Schmelzen von Bernstein herausgestellt, dass er von Chemie nicht viel verstand? Aber schon schwadronierte er eifrig weiter: Da alles auf alles wirke auf der Erde wie im gesamten Sonnensystem, so sei für einen Arzt auch die Kenntnis vom Einfluss der Gestirne unentbehrlich, weshalb er meistens seine Arzneien im Aquinoktium herstelle, der Tagundnachtgleiche. Dieser gegenseitige Einfluss aller Dinge sei aber nicht bloß auf die Körperwelt begrenzt. Die Körperwelt sei Wirkung, der Geist dagegen Ursache und die Geisterwelt eine zusammenhängende Kette, aus der immer Wirkungen ausströmten. Die wahren Naturkenner seien mithin jene, die ebenso gut hinauf wie hinab sehen könnten, das heißt, die Personen, die mit Geistern wie mit der Materie in Verbindung ständen. In dieses Geheimwissen sei er gleichfalls in Arabien eingeweiht worden, und zwar durch eine Gesellschaft in Medina, wo er wie jeder neu Aufgenommene das Gelübde ablegen musste, zum Besten der Menschheit eine gewisse Zeit durch die Welt zu wandern und unentgeltlich das wiederzugeben, was er selbst genauso empfangen habe. So sei er dann über Ägypten nach Europa gekommen.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs, bei dem Cagliostro das große Wort führte, gewann Elisas Achtung vor seinem Charakter und seiner Moral immer mehr die Oberhand gegenüber dem Misstrauen, das sich in den letzten Tagen einzuschleichen begonnen hatte. Manches, was ihr an ihm missfallen hatte, rückte nun in ein anderes Licht. Sein Scharfsinn und seine Menschenkenntnis setzten sie nicht weniger in Erstaunen als seine magischen Experimente.
Unvermittelt fragte er sie plötzlich nach ihrer Meinung über Zierentz, was er für ein Mensch sei und ob sie ihm Näheres über ihn erzählen könne, seinen Charakter, seinen Umgang, sein Leben. Verblüfft schaute sie ihn an. Wie kam er gerade auf diesen Mann, und warum wandte er sich ausgerechnet an sie? Verlegen antwortete sie, Zierentz zu wenig zu kennen, um ihm die gewünschte Auskunft geben zu können. In Wirklichkeit jedoch hatte sie mehr über ihn gehört, als sie zugab, unter anderem von einem Vorfall, der ihm Nachteil hätte bringen können. Doch außer zwei Freunden und ihrer Stiefmutter, die ihr alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte, wusste sonst niemand davon.
Cagliostro sah ihr scharf ins Gesicht, wobei er den Kopf mit dem kurzen Hals gegen sie vorstieß wie ein angriffslustiger Hahn und sie eine Schlange nannten, die er an seinem Busen nähre, sie lüge und solle ihm schwören, dass sie aus dem Leben von Zierentz kein Ereignis kenne, über das außer ihr nur noch drei andere Bescheid wüssten.
Sie war bestürzt und schwieg, um mit sich zu Rate zu gehen, wie sie sich aus dieser peinlichen Lage herauswinden könne, ohne ihr Wort zu brechen und Unrecht zu tun. Sie tadelte sein Betragen und fragte ihn, wem er damit überhaupt etwas vorspielen wolle, wo er jetzt doch nur sie an seiner Seite habe, sie, die von seinem dienstbaren Geist Hanachiel beobachtet werde, wie er selbst sage. Da sie das Auge des Allwissenden, der das Innere ihres Herzens lese, nicht zu scheuen habe, so fürchte sie auch die Beobachtung Hanachiels nicht, wenn er als guter Geist in ihrer Seele lese. Sie vertraue dem, der Dämonen und Nekromantisten im Zaum zu halten wisse, und sei überzeugt, dass er alle Wirren in der Welt meistern und das Schlechte zum Guten wenden werde.
Bei ihren Worten hatte sich Cagliostros Miene aufgehellt. Freundlich blickte er sie an und drückte ihr die Hand, nannte sie jetzt eine gute Seele und schmeichelte ihr in den süßesten Tönen. So viel Verschwiegenheit, so viel Stärke des Geistes und so viel Klugheit hätte er ihr bei ihrer Jugend nicht zugetraut, einer Frau von gerade mal fünfundzwanzig Jahren! Wie sie sich aus der Affäre gezogen, das habe seine Erwartung weit übertroffen. Jetzt könne er es ihr ja sagen, wie die Sache zusammenhänge. Seine Oberen hätten ihm befohlen, ihr diese verfängliche Frage zu stellen, nachdem sie ihm den ganzen Sachverhalt entdeckt und sogar mitgeteilt hätten, dass ihre Mutter ihr die Geschichte zur Erweiterung ihrer Menschenkenntnis erzählt habe. Hätte sie ihm alles gestanden, dann hätte er befürchten müssen, dass sie in ihrer Schwäche auch künftigen Versuchungen unterliegen und an den gefährlichen Klippen der Magie scheitern würde. Wenn sie die Stirn gehabt hätte, einen solchen Eid zu schwören, dann hätte sie den ersten Schritt getan, um noch tiefer in den Sumpf der Laster zu sinken, und er wäre dann gezwungen gewesen, allmählich seine Hand von ihr abzuziehen. Die Bahn der Magie, auf der sie weit kommen könne, da sie dazu alle Gaben des Geistes und Herzens besitze, sei gefährlich. Unter tausend erreiche höchstens einer das hohe Ziel, durch das man sich selbst und andere beseligen könne, sobald man allen Versuchungen entkommen und nicht schon vorher in den Abgrund gestürzt sei. Über dieses Gespräch in der Kutsche solle sie mit niemandem reden, ermahnte er sie, er habe gute Gründe, seine Kraft, in Menschenseelen zu lesen, auch weiterhin zu verheimlichen.
Ebenso gute Gründe hatte er, gerade bei Elisa von der Recke als Mann zu gelten, der übernatürliche Kräfte des Geistes besitze und in den Seelen der Menschen wie in einem offenen Buch lese. Da er es seit einiger Zeit darauf angelegt hatte, sie zur Reise mit ihm nach Petersburg zu bewegen, was er wiederholt in ihre Unterhaltungen einzustreuen verstand, hatte er in seiner Durchtriebenheit diese Geschichte raffiniert eingefädelt. Wenn auch die Saat nicht ganz nach seinen Berechnungen aufging, jedenfalls noch nicht, wie er sich tröstete, so durfte er wenigstens aus ihrem Verhalten schließen, dass nun jeder letzte Zweifel an seine Kraft, in Menschenseelen zu lesen, beseitigt war, sie ferner große Stücke auf ihn und seine Verbindung zu höheren Geistern hielt und er ihre Hoffnung weiter genährt hatte, durch ihn zum Gipfel der Magie zu gelangen.
Erst viel später, als Cagliostro längst aus Kurland verschwunden und endlich auch Elisa dem Betrüger auf die Schliche gekommen war, erwies sich die ihr bis dahin unerklärliche Geschichte genauso als billiger Trick eines Taschenspielers wie anderes auch. Sie wagte es nämlich entgegen seinem Verbot mit ihrer Stiefmutter und den beiden Freunden, die über den Vorfall mit Zierentz Bescheid wussten, die so geheimnisvolle Begebenheit mit Cagliostro zu erörtern. Wie sie dabei erfuhr, hatte der große Magier dem einen Freund durch verfängliche Fragen alles entlockt, auch dass Elisa und ihre Stiefmutter zu den wenigen Mitwissern gehörten, und ihn damals feierlich geloben lassen, niemandem auch nur ein Sterbenswort über sein Gespräch mit ihm zu sagen. Die von ihren Oberen zum blinden Gehorsam erzogenen Schüler, waren so einfältig, seine Vorschriften zu befolgen. Deshalb konnte der Scharlatan auch so sicher sein, dass niemand ihn durchschauen würde, solange sie an seine vorgespiegelte Verbindung mit höheren Geistern glaubten.
Die Unterhaltung in Cagliostros Wagen plätscherte noch eine Weile dahin, viel Zeit, den einen oder anderen Gedanken zu vertiefen, blieb ihnen nicht mehr, die Fahrt näherte sich ihrem Ende. In der Ferne tauchte bereits der Wald von Wilzen auf, wo angeblich die Schätze vergraben sein sollten, als der große Magier das Gespräch mit Freifrau von der Recke abbrach, um zunächst still vor sich hin in einer fremden Sprache zu murmeln und zu beten und dann in einem kleinen, roten Buch zu lesen, einem magischen Buch, wie er ihr früher einmal erklärt hatte.
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