Langsam wanderte er die Straße entlang, denn er hatte keine Eile, seinen Vorgesetzten zu erreichen. Er hoffte, daß ihm noch irgendein Ausweg einfallen würde, um Barbara nicht direkt durch diese Entdeckung zu belasten.
Aber als er die Treppe zum ›Carlton-Club‹ hinaufstieg, war er noch auf keine Lösung gekommen.
Zu seinem größten Erstaunen wartete der Chefinspektor bereits in der Eingangshalle auf ihn.
»Kommen Sie mit mir in den Rauchsalon«, sagte er zu Jack.
Danton folgte der Aufforderung und wunderte sich, woher der Chefinspektor etwas von seinem bevorstehenden Besuch wissen konnte.
Aber die Frage klärte sich bald.
»Ich bin von der Polizeiwache Westminster angerufen worden, und man hat mir die Festnahme dieses sonderbaren John Smith mitgeteilt. Nachdem Sie die Wache verlassen hatten, kam ein Freund dieses Mannes und klärte die Sache auf. Ich bin davon überzeugt, daß ihm das Schmuckstück, das man bei ihm fand, rechtmäßig gehört. Er ist ein Juwelier und war unterwegs, um die Brillantnadel einem Freund zu zeigen.«
Diese dürftige Erklärung setzte Jack in größtes Erstaunen. Er atmete trotzdem erleichtert auf, denn dadurch war Barbara im Augenblick außer Gefahr.
»Das Schmuckstück entsprach doch aber genau der Beschreibung«, widersprach er schwach.
Sein Vorgesetzter jedoch wollte nicht noch länger bei diesem Gegenstand verweilen und unterbrach ihn. »Das weiß ich auch. Es ist völlig gleich – ein Duplikat der Brillantnadel, die Mrs. Crewe-Sanders bei dem Juwelier Streetley gekauft hat. Der Mann, den Sie mitbrachten, ist der Geschäftsführer dieser berühmten und Ihnen sicher bekannten Firma.«
Darauf wußte Jack nichts zu sagen. Er war auch viel zu erleichtert, daß sich der Verdacht gegen Barbara als unbegründet herausstellte, um sich noch viele Gedanken wegen seines Irrtums zu machen.
»Und noch eins, Danton«, fuhr der Chefinspektor fort, während er nachdenklich auf die Asche seiner Zigarre schaute, »ich habe heute im Scherz gesagt, Sie sollten die Augen offenhalten, ob Sie vielleicht den Juwelendieb im Hause von Lord Widdicombe fänden. – Keine Widerrede, mein Lieber – es war ein Scherz. Wenn Sie sich jetzt in die Ermittlungen einmischen würden, könnten Sie höchstens stören.«
»Ich verstehe«, murmelte Jack, obwohl er nichts verstanden hatte.
In unsern Kreisen wird man noch eher den Diebstahl der Schmuckstücke verzeihen als diese gemeinen Verleumdungen«, sagte Lady Widdicombe ernst.
Diana mußte über diese Worte lachen.
»Daran sieht man wieder einmal, wie inkonsequent und unmoralisch die Gesellschaft im Grunde ist«, entgegnete sie leichthin. Sie stütze den Kopf auf die Hand und schaute auf das Parkett, wo zahlreiche Paare tanzten.
Die Tanzabende von Lady Widdicombe während der Kricketwoche waren bekannt und beliebt, und wer zu den oberen Zehntausend gehörte, war dort zu finden. Eine lange Reihe von Autos hielt dann vor dem großen Parktor.
»Ich habe eben mit Mrs. Crewe-Sanders gesprochen«, erklärte Diana, während sie die tanzenden Paare weiter beobachtete. »Sie ist der Meinung, daß niemand in Schloß Morply eindringen kann, der nicht mit der Lage der Räume genau vertraut ist.«
»Sie hat natürlich den größten Verlust erlitten«, meinte Lady Widdicombe.
Wieder lachte Diana.
»Die arme Frau steckt sich aber auch all ihren Schmuck an. Ich wundere mich nur, daß sie den Verlust überhaupt gemerkt hat. Sonderbar ist nur, daß ausgerechnet ihr die Nadel gestohlen wurde, da doch so viele andere Gäste im Haus waren, die ebenfalls eine Menge Schmuck besaßen. – Hallo, Barbara«, erwiderte sie den Gruß einer jungen Dame, die die Galerie entlangkam. »Tanzen Sie denn nicht?«
Barbara sah in ihrem cremefarbenen Abendkleid noch schöner aus als sonst. Mit strahlenden Augen blickte sie Diana an. Plötzlich trat ein fragender Ausdruck in ihr Gesicht.
»Nanu – haben Sie keine Angst, Ihren kostbaren Schmuck zu tragen?« fragte sie, ohne auf Dianas Worte einzugehen, und deutete auf die glänzende Brillantnadel, die Diana an ihrem weißseidenen Kleid trug.
»Wie Sie sehen – nein. Ich glaube nicht, daß der berüchtigte Dieb hierherkommen wird.«
»Wollten Sie mich sprechen?« wandte sich Lady Widdicombe an Barbara.
»Ja, ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich mein Zimmer gewechselt habe.«
»Ach, das ist aber sehr freundlich von Ihnen«,.erwiderte die Dame des Hauses dankbar. »Macht es Ihnen auch wirklich nichts aus?«
»Nicht im mindesten«, antwortete Barbara lachend.
»Eine der vielen Kusinen meines Mannes ist nämlich krank geworden«, erklärte Lady Widdicombe, »und Barbara war so liebenswürdig, mir sofort anzubieten, daß sie das Zimmer mit ihr tauschen würde.« Sie sah Barbara bewundernd nach, als das Mädchen weiterging. »Übrigens hat Barbara mir gesagt«, fuhr sie dann fort, »daß dieser anonyme Briefschreiber einem ihrer Verwandten etwas Abscheuliches über sie geschrieben hat.«
»Sie scheint sich aber nicht viel daraus zu machen«, meinte Diana kühl.
»Die Geschichte mit den Verleumdungen ist wirklich zu schlimm!« rief Lady Widdicombe aus, die sich nicht so leicht damit abfand.
Auch unten in der weiträumigen Bibliothek, die an diesem Abend als Rauchzimmer für die Herren diente, sprach man über den Juwelendiebstahl auf Schloß Morply und über die anonymen Briefe des ›aufrichtigen Freundes‹.
Der Hausherr stand im Kreis seiner Gäste am Kamin. Er war groß und stattlich, und trotz eines chronischen Magenleidens hatte er viel Sinn für Humor. Aber auch er verurteilte das verantwortungslose Tun des anonymen Briefschreibers, der bereits drei Familientragödien auf dem Gewissen hatte – man sprach sogar schon von einer vierten, die sich auf einem benachbarten Schloß anbahnte.
Lord Widdicombe konnte sehr interessant erzählen, und als sich das Gespräch den Juwelendiebstählen zuwandte, kam er auf Erfahrungen zu sprechen, die er in Indien gesammelt hatte.
»Meiner Meinung nach hat sich dieser Einbrecher deswegen auf Brillantnadeln spezialisiert, weil man sie verhältnismäßig leicht zu Geld machen kann. Als ich seinerzeit Gouverneur von Bombay war, kam man einer Bande auf die Spur, die einen umfangreichen Diamantendiebstahl geplant hatte. Wäre er ihr gelungen, so hätte die englische Regierung dadurch in eine verteufelte Lage kommen können. – Haben Sie schon einmal von dem Diamanten der Göttin Kali gehört? – Ich glaube nicht«, fuhr er lächelnd fort. »In Indien ist das ein sehr bekannter Stein. Er ist nicht besonders groß, und sein Wert wird noch nicht einmal auf tausend Pfund geschätzt, aber der Stein ist so berühmt, daß man ihn nicht für eine Million Pfund kaufen könnte. In einer Beziehung ist er auch wirklich einzig in seiner Art, denn auf einer seiner Flächen ist ein ganzer Vers der heiligen Schriften eingraviert. Nur die Inder mit ihrer unendlichen Geduld sind zu derartigen Dingen fähig. Sie können sich vorstellen, daß die Buchstaben winzig klein sind und daß man schon ein starkes Vergrößerungsglas nehmen muß, um sie überhaupt lesen zu können. Die Inder glauben nun, daß diese Worte nicht von Menschen eingraviert, sondern durch das Wunder einer Gottheit entstanden sind.
Es waren früher schon Versuche gemacht worden, den Stein zu stehlen, und schließlich hatte sich die englische Regierung darum gekümmert, denn man wußte wohl, daß es Unruhen geben würde, wenn diese Kostbarkeit abhanden käme. Die Regierung nahm den Diamanten daher in Verwahrung. Bei einem bestimmten heiligen Fest wird er öffentlich ausgestellt – übrigens findet es gerade in diesem Monat wieder statt. Selbstverständlich wurde dieser einzigartige Stein mit der größten Sorgfalt gehütet. Trotzdem gelang es einer Bande indischer Diebe, in das Gewölbe einzubrechen, wo der Stein aufbewahrt wurde, und ihn zu rauben. Das geschah zwei Wochen vor dem großen Fest, und alle Regierungsbeamten waren entsetzt über den Diebstahl. Zum Glück konnten wir uns mit den Räubern in Verbindung setzen, aber wir mußten immerhin hunderttausend Pfund Lösegeld zahlen.«
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