»Dort, sehen Sie«, überschlug sich plötzlich Davidsons Stimme, »die Krallen, oh Gott, sie bewegen sich!«
Deutlich konnte ich erkennen, wie die mit Widerhaken besetzten Krallen, die aus dem Kugelgelenk unterhalb des Kristalleies herausragten, zu unnatürlichem Leben erwachten. Der Anblick war beängstigend und ekelerregend. Wie die Glieder einer Knochenhand wanden sich die dünnen, spitzen Krallenfinger im rötlichen Schein elektrischer Entladungen, so, als wollten sie nach irgendetwas greifen. Angewidert wandte ich mich ab. Doch Davidson ließ nicht locker.
»Um Himmels willen, Mr Walden! Sehen Sie doch hin! Das Licht, es verändert sich. Oh, warten Sie! Wie kann das sein? Ich glaube, es schwebt!«
Ich blickte wieder zum Artefakt hinüber. Es war einfach unglaublich. Das rot leuchtende Kristallei war nun von einem orangefarbenen Ring aus purem Licht umgeben, der langsam auf und ab wanderte. Ich befürchtete, dass über kurz oder lang die enorme Hitze, die von diesem Phänomen abgestrahlt wurde, das Labor in Brand setzen würde. Ich musste etwas unternehmen.
»Davidson, schnell, geben Sie mir die Axt!«
»Was zum Teufel haben Sie vor?«
Ich deutete auf das Kristallei. »Ich werde dem Spuk jetzt ein Ende bereiten.«
Davidson packte mich schmerzhaft am Arm. »Nein, das können Sie nicht tun! Dieses Objekt ist für die Wissenschaft unersetzlich.«
»Und ob ich das kann«, entgegnete ich scharf. »Das Ding dort drüben wird immer größer und in ein paar Minuten das gesamte Haus in Brand setzen. Wollen Sie das riskieren?«
Mein Gastgeber warf einen abschätzenden Blick zu dem Artefakt hinüber. In den dunklen Gläsern seiner Schutzbrille spiegelten sich die orangefarbenen Entladungen, die knatternd aus dem Kristallei schlugen. Schließlich lockerte sich sein Griff und er reichte mir die Axt. »Also gut. Aber warten Sie.« Er zog sich hastig die schwarzen Gummihandschuhe aus und reichte sie mir. »Hier! Ziehen Sie die gefälligst über und setzten Sie Ihre verdammte Schutzbrille wieder auf! Ich habe keine Lust, meine Gurkensandwiches nachher alleine zu essen.«
Ich quittierte seine Bemerkung mit der Andeutung eines Lächelns und nahm die Axt. Langsam arbeitete ich mich zu dem Artefakt vor. Der orangefarbene Lichtring, der noch immer flimmernd auf und ab wanderte, hatte mittlerweile einen Durchmesser von fast eineinhalb Fuß erreicht und wuchs weiter. Eine unglaubliche Hitze strahlte von ihm ab und mir war sofort klar, dass ich mir schwerste Verbrennungen zufügen würde, sollte ich ihm zu nahe kommen. Ich wartete ab, bis der wabernde Lichtring an die tiefste Position gewandert war und das Artefakt offen vor mir lag. Dann holte ich aus und schlug mit aller Kraft auf die Spitze der Struktur. Zu meiner Überraschung blieb der Kristall intakt, zeigte aber eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Rissen. Knackend und knirschend breiteten sich die Risse schnell über die gesamte Oberfläche des Objektes aus. Helles Licht brach zwischen den Bruchstellen hervor. Obwohl ich spürte, dass es nun höchste Zeit war, in Deckung zu gehen, beobachtete ich seltsam fasziniert, was mit dem Kristall geschah. Schließlich brachte mich Davidsons Gekreische zur Besinnung.
»Gottverdammt, Mr Walden! Auf was warten Sie noch? Kommen Sie da weg!«
Ich schnellte herum, rannte durch das Labor und sprang hinter das Transformatorengehäuse. Kaum hatte ich mich hinter die schützende Metallverkleidung geduckt, zerbarst auch schon der Kristall mit einem ohrenbetäubenden Knall. Ein Hagel von Splittern fegte wie eine Sturmbö durch das Labor und zertrümmerte Reagenzgläser, Messbecher und anderes Gerät. Nicht wenige Fragmente schlugen mit der Wucht von Schrapnellen in die Rückwand des Transformators ein und ich dankte in diesem Moment dem Himmel dafür, dass ich auf Davidson gehört hatte. Einen Augenblick später war der ganze Spuk vorbei und Stille breitete sich im Labor aus. Noch immer hinter dem Transformator kauernd, zogen wir uns langsam die Schutzbrillen vom Gesicht und lauschten auf verdächtige Geräusche. Als wir nichts dergleichen hörten, richteten wir uns auf und schauten uns um. Der Tisch, auf dem sich die Halterung mit dem Artefakt befunden hatte, lag in Trümmern. Zahlreiche Geräte und Behälter auf den umliegenden Arbeitsflächen waren zerstört.
Davidson deutete auf die Wand in seiner Nähe, aus der mehrere verdrehte Metallsplitter ragten. »Sie wären glatt durchsiebt worden, mein Lieber.«
Ich nickte und versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen. Mein Gastgeber durchquerte den Raum und betätigte den Lichtschalter. Offenbar waren die Stromleitungen trotz der vorangegangenen Überbelastung intakt geblieben und bis auf eine Glühlampe, die von umherfliegenden Splittern zerstört worden war, flammte das elektrische Licht ohne Probleme auf. Davidson warf einen kritischen Blick in die Runde. Angesichts der Zerstörungen, die nun offenbar wurden, drückte ich ihm mein Bedauern über die entstandenen Schäden aus. Aber Davidson klopfte mir nur beschwichtigend auf die Schulter und meinte: »Die Wissenschaft fordert nun einmal Opfer, junger Mann. Und wenn es sich dabei nur um etwas zerbrochenes Glas und verdrehtes Metall handelt, umso besser.«
Mit einem Lächeln pflichtete ich ihm bei. Wir wandten uns wieder dem Chaos um uns herum zu. Davidson schlug vor, das Labor nach versteckten Brandherden abzusuchen. Nach einer gründlichen Inspektion machten wir uns daran, die Reste des Artefaktes zusammenzusuchen. Mit Verwunderung stellten wir fest, dass von dem seltsamen Objekt nur noch daumengroße Trümmerstücke übrig geblieben waren. Sorgsam sammelten wir alle Kristall- und Metallfragmente, deren wir habhaft werden konnten, ein und legten sie in eine abschließbare Kassette.
Als wir schließlich das Labor verließen, bat mich Davidson, die Bruchstücke einem befreundeten Wissenschaftler zur weiteren Untersuchung übergeben zu dürfen. Ich stimmte zu, denn das Artefakt, so außergewöhnlich es auch gewesen sein mochte, war nun einmal zerstört und ich sah keinen Sinn darin, Nicholas bei meiner Ankunft in Penrith einen Haufen Kristallscherben und Metallsplitter in die Hand zu drücken. Mein Gastgeber nahm die Kassette an sich und schloss sie unter der Versicherung, sie sei bei ihm gut aufgehoben, in den Tresor seines Arbeitszimmers. Anschließend kredenzte uns Mrs Davidson die versprochenen Gurkensandwiches, an denen wir allerdings nur abwesend herumkauten, da unser Geist noch völlig von dem gefangen war, was wir gerade im Keller erlebt hatten. Einzig und allein der Brandy erfreute sich bei uns eines regen Zuspruches, was aufgrund unserer angegriffenen Nerven auch wenig verwunderlich war. Diskussionen kamen hingegen kaum auf. Wir wussten nur allzu gut, dass nichts von dem, was wir dort unten im Labor gesehen hatten, eine Entsprechung in einem modernen Physikbuch fand. Abschließend verfasste Davidson noch ein Schreiben für Nicholas, welches allerdings weitaus mehr Mutmaßungen enthielt, als es Fragen beantwortete. Ich steckte das Dokument zusammen mit einem Kristallsplitter, den ich vorsorglich für mich behalten hatte, in meine Tasche und ließ mich dann von Davidson zur Tür bringen. Mit dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben, verabschiedete ich mich von meinem Gastgeber und machte mich auf den Weg zurück nach Holborn.
Zuhause angekommen, verschwendete ich keine Zeit und erzählte Sophie sofort von dem seltsamen Päckchen aus Penrith und meinen haarsträubenden Erlebnissen bei Davidson. Wie zu erwarten, glaubte sie mir kein einziges Wort und unterstellte mir stattdessen, betrunken zu sein. Obwohl ich noch immer Davidsons Brandy auf der Zunge schmeckte, bestritt ich dies natürlich vehement. Ich versicherte ihr, dass alles, was ich ihr berichtet hatte, den Tatsachen entspräche und ich nicht die geringste Ahnung hätte, was dort oben in Penrith vor sich ginge. Und außerdem, so fügte ich hinzu, sei ich absolut überzeugt davon, dass es sich hierbei nicht um einen von Nicholas' berüchtigten Späßen handele, denn das Objekt, das Davidson und ich untersucht hatten, war absolut real gewesen.
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