Pia riss ihn aus seinen Gedanken. »Mutter Elise wird sich um das Seelenheil der Kleinen kümmern. Und Sie, Salvo, Sie könnten ihr vielleicht manche Sonntage verschönern. Sie vielleicht an Weihnachten zu sich nehmen. An Heilig Abend vielleicht. Könnten ihr ein paar schöne Seiten des Lebens zeigen. Salvo, sie kann so viel von Ihnen lernen...«
Commissario Salvo Barutti sah von der Heilsarmeeschwester zu dem Mädchen. Konnte er diese Bitte überhaupt abschlagen, oder war es nicht viel mehr sogar seine Pflicht, sich um das geschundene Menschenkind zu kümmern. Er nickte langsam. Über den Tisch streckte er Schwester Pia die Hand entgegen. »Ich mache es. Ich verspreche Ihnen, mich in meiner Freizeit so viel und so gut als möglich um die Kleine zu kümmern.«
»Danke. Ich weiß, dass sie bei Ihnen in guten Händen ist.« Schwester Pia standen Tränen in den Augen, als sie sich an das Mädchen wandte: »Der Commissario ist ein guter Mensch, Kleines, er wird sich deiner annehmen. Er wird dir unser Sizilien zeigen..., du wirst sehr viel von ihm lernen, ganz bestimmt.«
Salvo nickte dem Mädchen zu. »Wie heißt du, Kleine?« Seine Stimme hatte einen warmen Klang. Er hoffte, dass sie ihm antwortete.
Als das fünfzehnjährige Vergewaltigungsopfer schwieg, sagte er leise: »Bell, ich werde dich Bell nennen.« und es kam ihm vor, als würde das Mädchen dankbar lächeln. Dankbar dafür, auch ihren Namen nicht mehr nennen und hören zu müssen. Dankbar, alles vergessen zu dürfen, was sie an ihr altes Leben erinnerte.
Salvo trank seinen Kaffee aus, anschließend fuhr er Pia und seinen, ab heute, Zögling, zu dem Kloster, das Schwester Pia für die Zukunft des Mädchens ausgesucht hatte. Sie fuhren zum Kloster der Heiligen Jungfrau, ein Kloster, das sehr abgelegen lag, und zu dem sehr wenige kamen. Ein Kloster, in welchem das gepeinigte Mädchen zur Ruhe kommen und Vergessen finden konnte ...
Lotte fuhr Pete und Jesse zu Petes altem Ford Capri . Dem ersten Capri Modells, Baujahr 1968, welches Ford gebaut hatte, in dunkellila Lackierung.
»Ich muss kurz nach Hause.« Lotte war immer noch leichenblass.
»Bist du sicher, dass wir dich alleine lassen sollen?« Pete gefiel Lottes Zustand nicht, zumal er nicht wusste, was der Auslöser für diesen war.
»Ganz sicher, Pete. Ich« sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, »hab´ heute Nacht nur zu wenig Schlaf bekommen. Ich werde mich ein bisschen aufs Ohr legen.«
»Lotte, irgendwas ist doch mit dir. War etwas« er sah hinter sich, als wären sie immer noch am Schauplatz des Geschehens, »dort, am Tatort. Hast du etwas gefunden? Eine Spur? Etwas, das dir Sorge bereitet?«
Lotte schüttelte den Kopf. »Nein, Pete, nichts. Mach dir keine Sorgen. Es ist..., ach, nur mein Kreislauf, der ein bisschen schlapp macht. Nichts, das nicht mit ein paar Stunden Schlaf wieder auskuriert werden könnte.«
»Ganz sicher?« Zögernd stieg Pete aus und schloss die Beifahrertür.
»Ganz sicher.« Sie wandte sich an Dump. »Jesse, du gehst bitte zu Bill und lässt ihn eine Phantomzeichnung von der Leiche anfertigen. Bis ihr Feierabend habt, werde ich soweit hergestellt sein, dass ich heute Abend noch ein paar Stunden Büroarbeit verrichten kann. Morgen in aller Frühe treffen wir uns dann wieder in alter Frische im Büro. Und sollte Miraldi nach mir fragen, sag ihm einfach, dass mir nicht wohl ist, und ich ein paar Stunden Auszeit nehme. Nach all meinen Überstunden kann er ohnehin nichts dagegen sagen.«
»Aber wird der Alte nicht stinksauer werden, wenn er das hört?« Jesse sah Lotte irritiert an. Was hatte er nur gesagt, das sie dermaßen aus der Fassung geraten ließ? Seit er die Lombard kannte, hatte sie sich noch nie eine Auszeit genommen, gleich, wie viel Überstunden sie auch gemacht hatte. »Immerhin will er, dass wir die Leiche wiederfinden.«
Lotte winkte ab. »Wo immer die Leiche auch sein mag, toter kann sie nicht werden. Und bisweilen haben wir unser Bestes getan, um sie wiederzufinden. Bevor wir weiter agieren können, müssen wir erst einmal wissen, um wen es sich bei der Leiche handelt. Deswegen, Jesse, geh zu Bill...« Das Fenster des Beetles fuhr surrend hoch. Gleich darauf fuhr sie davon.
Jesse und Pete sahen ihr perplex hinterher.
»Irgendetwas ist doch mit ihr.« Pete kramte in seiner Hose nach seinem Autoschlüssel.
»Ja, aber was?«
»Woher soll ich das wissen? Du warst doch bei ihr. Was hast du denn zu ihr gesagt, Jesse? Oder hat sie etwas am Tatort gefunden?«
»Pete, ich hab nichts weiter zu ihr gesagt. Sie hat mich gefragt, ob mir sonst irgendetwas aufgefallen war, bevor« er schluckte, »mir die Leiche davon gerutscht ist.«
»Ja und, ist dir irgendwas aufgefallen?«
»Wie..., nee.« Jesse schüttelte den Kopf.
»Hast du denn etwas gesehen oder gefunden?« Wo war nur der verdammte Autoschlüssel?
»Nein, nichts. Ich hab nur `ne Spielkarte am Tatort gesehen. Aber die kann von jedem dort hingeworfen worden sein.«
Pete hielt in der Suche inne. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten. »Eine Spielkarte, sagst du?«
»Ja, eine Spielkarte.«
»Was für eine?« Ganz weit in Petes Hinterkopf, glaubte er, Alarmglocken klingen zu hören. War da nicht etwas gewesen? Hatte es nicht schon einmal einen Fall gegeben, in welchem Spielkarten eine Rolle gespielt hatten? Pete wollte und wollte nicht einfallen, um was es damals gegangen war. Oh verdammt, das Alter! Dabei war er doch erst zweiundvierzig.
»Jetzt kommst du auch noch mit so `ner Frage. Was sit denn so wichtig daran, was für eine Karte es war. Aber schön, wenn du´s genau wissen willst, es war das Kreuz As. Nun zufrieden?«
»Wenn ich das wüsste, Jesse, wenn ich das wüsste.« Endlich hatte er den Schlüssel, zwischen zerknüllten Tempos, gefunden.
Er öffnete den Wagen, setzte sich, beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete Jesse die Tür.
»Ich fahr dich jetzt zu Bill. Versuch dich an alles zu erinnern, was du an der Leiche gesehen hast, Jesse. Je mehr du weißt, umso leichter wird es uns fallen, herauszufinden, um wen es sich handelt. Das erleichtert unsere Arbeit kolossal. Wenn wir wissen, wer es war, dann haben wir zumindest einen Anhaltspunkt, wo wir mit der Suche ansetzen können. Mit etwas Glück, gelingt es uns, den Weg des Opfers bis hin zum Tatort zu rekonstruieren.«
»Dann muss er angerufen werden, dass er vorbeikommt und seinen freien Tag auf morgen verschieben.«
Odin stand schwanzwedelnd hinter der Tür. Als Lotte nicht schnell genug öffnete, sprang er bellend an der Eingangstür hoch.
»Gut, Odin, bin ja gleich bei dir.«
Einen Augenblick später begrüßte sie der Schäferhund freudig.
Lotte legte ihre Tasche auf den kleinen Tisch im Flur, wandte sich Odin zu und begrüßte ihn, indem sie sich über ihn beugte und ihm beidseitig den Bauch klopfte. »Du bist ein ganz Braver, Odin.« Sie langte nach ihrem Schlüssel und ging mit ihm nach draußen.
In der Nähe war ein kleiner Wald; dorthin ging sie mit Odin, der freudig vor- und zurückrannte, immer laut bellend. Auf Lottes Zeichen hin, schwieg er auf der Stelle, blieb mit gespitzten Ohren vor ihr stehen und wartete den nächsten Befehl ab.
Sie sah sich nach einem Stock um, bückte sich danach und warf ihn für Odin weit weg. Leise fiepend stand er vor ihr, wartete auf die Aufforderung, nach dem Stock zu rennen.
»Hol ihn!«
Sofort hechelte der Hund los. Nicht lange und er war mit dem Stock zurück und ließ ihn vor ihren Füßen ab. Dieses Zeremonial wiederholten die beiden noch einige Male, bis Odin außer Puste war. Danach lief Lotte mit dem Hund weiter, hin zu einem Bach, aus welchem sie Odin Wasser schlappern ließ.
»Hätte das nicht Zeit bis morgen gehabt?« Bill Bäcker, der Zeichner, öffnete übelgelaunt die Tür zu seinem Büro.
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