Darum warte ich jetzt immer auf den Schlag ihres Schrubbers. Wenigstens dann schaut sie mich an: Ihre Augen sehen meine Augen, sehen IN meine Augen und ich habe das Gefühl, dass das etwas auslöst. Plötzliches Erkennen: »Hoppla, da steht ein Mann!«
Nichts Großartiges, kein Staunen, nur der kurze Schreck darüber, dass das Hindernis LEBT.
Sie denkt nicht darüber nach, was der Mann da soll. Dass der Mann der Grund ist, diese Zelle zu putzen. Dass es ZUSAMMENHÄNGE gibt. Sie denkt nicht an so etwas. Sie denkt bloß: ein Mann. Fertig. Kein Attribut, kein »Oha, ein gut aussehender Mann«, oder »was für ein hässlicher Mann!«, oder »Dank Dir, Mann, dass ich ARBEIT habe!« Nichts. Doch ich bin froh, wenn sie mich überhaupt ansieht. Dann weiß ich, dass ich da bin. Und nicht einfach durch die Gitter gehen könnte.
>>> Kommentar der Putzfrau: »Komischer Typ. Die Zelle astrein. Geht am schnellsten. Kein Dreck, Bettzeug immer sauber, und die Klobrille erst: kann man von essen. Als wär' da keiner. Krieg ich ne Gänsehaut, ehrlich.«
»Dead man walking!«, wenn einer von uns geht. Gegangen wird. Wir strecken unsere Hände durch die Eisenstäbe und schütteln sie dem GEWEIHTEN, wir winken den Wärtern und applaudieren dem Henker, denn der Gang zwischen den Zellen ist der Gang der Gänge.
Neulich, der Selbstmörder. Unsanft hinauskomplimentiert. Seine Schreie ließen mich die Ohren zuhalten. Verurteilt wegen versuchten Selbstmords.
Denn GESETZ IST GESETZ!
Als Kind bin ich gerne am Feuer gesessen. Manchmal sprang eine Wurst vom Grill, direkt in die Glut. So erlebte das in die Wurst eingegangene Tier sein Sterben ein zweites Mal. Es, nein, sie krampfte, zuckte, bäumte sich auf und ihr anschwellendes Fleisch spannte die Pelle; Heulen und Zischen, bis sie zerriss, sich über die ganze Länge häutete und gelblicher Saft herausspritzte. Aus weißer Haut wurde schwarze Kruste, vom Fleisch blieb nur Kohle und endgültig konnte man von Tod sprechen.
Doch nein! Rechtzeitig stichst Du mit einer Gabel hinein und holst sie raus. Gerade noch. Ihre Erleichterung; natürlich nur, um zwischen Deinen Zähnen zermalmt zu werden.
Zu früh gefreut?
Und wenn sie sterben wollte? Absichtlich vom Rost gerutscht? In die Flammen? Und erst dort, unter unerträglichen Schmerzen schwach geworden und wieder einen Lebenswillen gefunden - unendlich froh, von Dir gerettet zu werden?
Und wenn ich mich selbst gleich mit verbrannt hätte? Mich mit Benzin übergossen und angezündet? Und man mich gerettet hätte, bevor es vorbei gewesen wäre? Dann LÄGE ich jetzt hier. Auf einem Krankenbett mit Brandblasen, nässenden Wunden und rohem Fleisch; Verbände, Infusionsflaschen und jeder Teil von mir BRENNT. Sie würden mich am Leben halten, mit der ganzen Gewalt des Hippokratischen Eids. Keinen Tag eher dürfte ich tot sein. Ich läge also auf dem Bett, und dann würde sie kommen. Sie - nicht Rosea, Rosea würde nicht kommen, aber: - meine Putzfrau. Und nun würde sie mich sehen, denn nun wäre ich UNÜBERSEHBAR! Ich könnte nicht sprechen, mein Gesicht ein bandagierter Klumpen, aber ich würde spüren, wie sie sich mir näherte und sich an mein Bett stellte, voller Mitgefühl, und auch ein bisschen Ekel dabei. Ich würde sie hören können, ein atemloses Seufzen. Ganz langsam, ganz vorsichtig würde ihre Hand über meinem Arm schweben, jenen, der allein noch unversehrt wäre. Es würde Minuten dauern, bis sie sich traute, ihre Hand zu senken.
Ich würde diesen Moment genießen, die Wärme ihres Körpers, und dann würden sich meine verbliebenen Härchen aufrichten, würden sie empfangen, ihre sorgenden Finger, würden sich sanft niederdrücken lassen, bis sich Haut auf Haut legte.
Von da an würde sie jeden Tag etwas länger bleiben, würde immer ihre Hand auf meinen Arm legen, würde mit mir sprechen; flüsternd, dass es die Anderen nicht hören, zärtlich, mitfühlend, liebevoll. Ich bliebe stumm, aber mit meinen restlichen Fingern würde ich ihr Zeichen geben. Trotz der Unerträglichkeit wäre ich glücklich.
Bis der Tag käme, der für jeden von uns kommt. Man würde mich mitsamt Bett hinunterschieben. Die Putzfrau würde heimlich weinen, niemand dürfte es wissen. Ein letzter Druck auf meinen Arm, ein letztes Zeichen meiner Hände, und dann: in meinem dunklen Kopf nur das dumpfe Rumpeln des schwer rollenden Bettes und die Stöße sich öffnender und schließender Eisentore.
>>> Kommentar der Putzfrau: »Wassendas für’n nasser Fleck unterm Bett? Wie Eiter. Als hätt' der was. Der gehört in Behandlung. Meine Meinung.«
Heute ist Inspektion. Vertreter der Verwaltung wollen sich vom Zustand der Anlage überzeugen. An Tagen wie diesen sind die Gänge zwischen den Zellen voller Menschen. Sie bilden dichte Trauben um die Referenten, Gutachter und Berater, die sich wiederum um die Funktionäre drängen. Wegen der vorgeschriebenen Sauberkeit tragen sie alle weiße Gummihandschuhe, weiße Kittel, weiße Hauben und weiße, knautschige Überzieher an den Schuhen. An den Zellen diskutieren die Inspekteure miteinander und lassen sich über jeden Insassen aufklären, sprechen über die Tat, das Motiv der Tat, die Ursache des Motivs und die Entstehung der Ursache, bis sie das ganze Leben erfasst haben, auf dem die Tat wie die Spitze einer Pyramide thront.
Das ganze Volk ist da. Ein in den Ohren flirrendes Tuscheln, Flüstern und Kichern hallt von den hohen Gewölben wider. Und weil es so voll ist, können nur die wenigsten verstehen, was im Zentrum der Menge gesprochen wird. Darum bilden sich auch an anderen Stellen leise Gesprächszirkel, beflissen, ernsthaft, und alle wollen die tausend Augen der Behörde sein. Aber da sind auch die, die den Grund ihres Kommens vergessen haben. Sie sind stumm oder flüstern in hilfloser Ehrfurcht mit ihren Nachbarn.
Sehnsüchtig warte ich darauf, dass ich an die Reihe komme. Denn nur den Wichtigsten will ich mich öffnen. Die Vorstellung, vor ihnen bloß zu liegen, ist Scham und Lust zugleich. Während ich warte, schauen manche andere zu mir herein. Ihre Blicke sind seltsam strafend, obwohl sie doch kein Recht haben, meine Tat zu beurteilen. Doch es kann auch Neid sein, weil sie sich unbedeutend fühlen beim Anblick des Todes. Ihre Augen springen hin und her, vom Bett auf die Toilettenschüssel und von da auf den Tisch mit den Früchten, und es scheint, dass sie selbst den Anblick der Früchte nicht ertragen. Manche zeigen mit dem Finger auf mich und sehen sich wichtigtuerisch um. Ich sitze auf dem Bett und versuche beiläufig zu wirken. Ich lese in einer Zeitschrift und scheine sie nicht zu bemerken.
Das Warten dauert Stunden. Ich stehe auf und gehe unter den Blicken einer kleinen grauen Frau zur Obstschale. Auf ihrem papierglatten Gesicht kleben dünne Sommersprossen und ihre Augen sind in den Gläsern einer randlosen Brille zu winzigen, schwarzen Punkten zusammengeschrumpft. Ich spüre den stechenden Druck dieser Augen, auch wenn ich nicht hinsehe. Erst als ich einen Apfel greife, wird mir bewusst, dass ich sie nicht fürchten muss; die Gittertür ist verschlossen. Ich schaue hoch und sehe, wie sie von der in Bewegung geratenen Menschenmenge weggedrängt wird. Doch sie verzieht noch ihre fein geschminkten Lippen und zeigt mir die gebleckten Zähne, auf denen ein Tee- oder Kaffeeschleier liegt. Nein, sie lacht nicht, sondern sie spuckt in meine Richtung, was sie wohl nie geübt hat, denn aus ihrem Schlitzmund sprühen viele kleine Tropfen, die hineinregnen und den Boden befeuchten. Auch das Obst und sogar mein Apfel werden nass.
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