»Siehst du es jetzt ein?« fragte er, »siehst du jetzt, wie wenig du für die Höhe geschaffen bist, in der du dich gerne wähntest? Aber keine Sorge, unten ist das Licht erträglich für Deinesgleichen.«
Stufe um Stufe, Absatz um Absatz, Geschoss um Geschoss ging es hinunter. Tatsächlich war es bald möglich, die Augen zu öffnen. Verschwommen sah ich den Schmutz, der dem Licht die Strahlkraft nahm. Die Wände waren - anders als weiter oben - lange nicht gestrichen worden, der Putz bröckelte, und auf den Stufen verrottete der Unrat ausgeleerter Plastiktüten. Es stank. Und je tiefer wir kamen, desto wärmer wurde es. Man roch, wie sich Fäulnis und Verwesung ausbreiteten. Der Müll nahm mit jedem Stockwerk zu; es fiel eben alles, was ohne Antrieb war, nach unten. Das Licht dagegen wurde schwächer und schwächer. Manche Etagen schienen vom Hausbrand verrußt zu sein und die Luft schmeckte scharf nach alter Asche.
Bald war die Treppe so düster, dass ich den Hund nicht sah, der mich plötzlich anbellte. Ein riesiger Schäferhund versperrte den inzwischen viel schmaleren Gang, und nur eine Kette bremste seine hitzigen Versuche, über mich herzufallen. Der Priester hatte keine Angst. Er näherte sich auf sanfte Art dem Tier, sprach ein paar beruhigende Worte, fasste es mit beiden Händen an den Ohren und schaute ihm in die Augen. Der Priester war auf beinahe magische Art Teil des Sich-Zurück-Ziehens und Niederlegens der Kreatur. Er, ich war gewillt zu denken, SIE streichelte dem Hund über den Rücken, kraulte seinen Bauch und winkte mir mit dem Kopf, vorbeizugehen.
Einige Treppen tiefer sagte sie: »Ja, du hast es bemerkt. Ich hätte es dir auch gesagt, aber nur, weil ich dir vertraue und es bei dir ungefährlich aufgehoben ist: Ich bin kein Priester, habe mit der Kirche nur den erschwindelten Bund, den ich für das brauche, was ich hier tue. Was soll schon ein Priester im Keller?«
Sie streifte ihr Kreuz ab und ließ es achtlos in die Tiefe fallen. Ich zählte meine Schritte, bis uns das leise Echo des Aufschlags erreichte. Bald war es so dunkel, dass sie ihre Taschenlampe wieder hervorzog und anschaltete. Auf den immer enger werdenden Stufen wurde es schwierig, nebeneinander zu gehen. Der oben so weite Lichtschacht war nur noch ein schmales Loch. Es gab auch keine Zwischenpodeste mehr, wir stiegen immerzu abwärts, abwärts, abwärts. Meine Waden schmerzten und meine schweren Füße brannten vor Müdigkeit. Einmal beugte ich mich über das Geländer, sah hoch, sah irgendwo ein helles Schimmern, das aus den oberen Etagen kam. Ich fragte mich, wie lange wir schon gingen und mir graute vor dem Rückweg.
Arm in Arm schritten wir hinab, ich innen, sie außen, und ihre warme Hüfte drückte sich an meine. Schließlich aber war es zu eng. Statt des inneren Lichtschachtes war da nun eine steinerne Säule, von der die Treppe spiralförmig abging. Dafür war die Außenwand verschwunden. Die kurzen Stufen endeten schwerelos in einer dunklen Leere, nicht einmal durch ein Geländer gesichert. Ich blieb stehen.
»Komm«, sagte die falsche Priesterin, »Du hast es bis hier geschafft, und ich bin immer noch bei dir. Ich werde hinter dir gehen und dich führen und halten. Lass eine Hand an der Säule, dann kannst du nicht fallen.«
»Wo ist die Wand?«
Sie schaltete die Taschenlampe aus und sagte: »Hier unten brauchen wir keine Wand. Die Dunkelheit ist gut. Denn wäre es hell, dann wäre dein Abstieg viel gefährlicher. Nicht nur wegen der Höhe oder der Weite. Vor allem wäre nichts zu sehen, was dir auch nur im entferntesten Sinne gut täte. Nichts.«
So schob sie mich tiefer, Stufe um Stufe um Stufe, bis mir die Beine vor Schwäche zitterten. Oben gab es jetzt nur noch ein fast nicht mehr erkennbares Licht, klein wie ein Stern in einem schwarzen Firmament; und unten ein diffuses Glimmen, aus dem die übelsten Gerüche und eine kaum zu ertragende Hitze aufstiegen. Nur ein lauer Wind, der uns ab und zu den Schweiß von der Haut sog, erleichterte den Abgang in die Tiefe.
»Wie soll ich je wieder nach oben kommen?«, fragte ich sie, »ich habe nicht mal mehr die Kraft, weiter hinabzusteigen! Man wird nach mir suchen, Alarm schlagen, mich bestrafen ...«, was natürlich lächerlich war, angesichts der Strafe, die noch ausstand. Eine Böe kam auf und vertrieb die Hitze. Das Echo eines fremden Rufes hallte in meinen Ohren und in der Ferne blitzte eine Art Wetterleuchten. Dann war es wieder still und dunkel. Der Wind blies kalt. Ohne Anstrengung drückte die Frau mich weiter.
Die steinernen Stufen waren plötzlich zu Ende. Ich trat auf ein Brett, das wackelte und knackte; eine ungehobelte Bohle, irgendwie an der porösen Säule befestigt. Trotzdem tastete ich noch einen Schritt tiefer. Wieder nur knarzendes Holz.
»Hier verlasse ich dich!«, sagte die Frau hinter mir. Ich hörte, wie sie den Talar anhob, um mir ihre ganze Weiblichkeit für einen letzten Blick zu zeigen. »Es ist nicht mehr weit!«, flüsterte sie.
Ich drehte mich zu ihr um und konzentrierte mich mit aller innerster Gewalt auf das schwarze Dreieck in der weißen Fläche, bis der Vorhang fiel und sich raschelnd nach oben entfernte.
Ich umklammerte mit beiden Armen die speckige Säule. Während ihre Schritte nach oben verklangen, tauchte unter mir die Kellersohle auf. Aus den Ritzen einer Tür strich warmes Licht über Möbel oder Kisten, über Kohlen, Staub und Stimmen ohne Körper.
>>> Kommentar der Putzfrau: »An der Holztreppe ist Schluss. Ich mach' nur Fliesen. Kein Holz ...«
Ich schlief im Staub. Hörte dem Schwamm zu, der im Gewölbe hauste, und den Kohleflocken, die sich auf meine Haut legten wie warmer Schnee. Ich schlief mein Leben aus. Ich schlief ein Jahr.
Ich schlief ein Jahr und war nicht einen Tag weniger schuldig.
Ich schlief hundert Jahre, und dennoch würde man oben auf mich warten, geduldig, bis ich zurückkam, um das Urteil an mir zu vollstrecken. Ich schlief bei den Pilzen. Stumme, große Pilze, menschengroß, zahllos wie Bäume im Wald. Man hatte sie zugeschnitten, hatte ihre Gliedmaßen entfernt bis auf ein Bein, auf dem sie stehen mussten. Sie stöhnten lautlos, schwankten, selten wagte einer einen Sprung, oder wenn, dann nur zu Paarungszwecken, dann schmiegten sie sich aneinander, drehten sie sich ineinander, und obwohl es nur Pilze waren, spürte ich das Vibrieren ihrer feuchten Stängel.
Später plumpsten Kinder aus den Pilzbäuchen und krochen davon. Sie suchten einen freien Platz, wo sie sich aufrichteten und auf ihren Beschnitt warteten; kleine, rosige Babypilze, aus denen Arme und Beine wuchsen wie Geschwüre.
Dies war mein Grund.
>>> Kommentar der Putzfrau: »Wech! Er is' immer noch wech und ich hab' nix zu tun. Als wär's egal.«
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