Dieses belanglose Geräusch eines harmlosen Tiers sorgt dafür, dass sämtliche Erinnerungen wieder zurückkehren; unvermittelt und brachial. Wie die Faust eines Boxers. Mit wackligen Beinen marschiere ich weiter. Das Quaken verfolgt mich, scheint mich zu verhöhnen.
Wie durch Zauberhand stehe ich daraufhin neben dem Tümpel. Er ist nicht groß, stinkt dafür umso gewaltiger. Wie Müll, der zu lange in der heißen Sonne vor sich hin gammelt.
Und dort haben sie sich versammelt. Wie Tauben in ihren Verschlägen bevölkern sie große, kränklich-braune Blätter, die man nur mit sehr viel Großzügigkeit als Seerosengewächse bezeichnen kann. Die darauf kauernden, glitschig-aufgeblähten kleinen Körper haben die gleiche Tönung, die unweigerlich Assoziationen an Krankheiten und Verfall hervorruft.
Kröten.
Widerliche, fettige, abstoßende Kröten. Missgeburten des Tierreichs mit ihren grotesk in die Breite gezogenen Mäulern und diesen schwarzen, kalten, gefühllosen Augen. Direkt vor mir tummelt sich mindestens ein Dutzend von diesen Biestern. Sie starren mich an, ich starre zurück – und erstarre. Fast scheint es, als wüssten sie Bescheid; als würden sie sich in meinem Leid suhlen wie Schweine im Dreck. Unvermittelt wird die Gegenwart durch das Vergangene ausgetauscht. Erinnerungen schieben sich vor das Hier und Jetzt wie Gewitterwolken vor die Sonne. Ich bin zurück im Damals.
„Siehst du das? Siehst du das? Flaum! Richtiger Flaum!“
Liebend gerne würde ich die Begeisterung von Alex teilen, doch dafür ist der skeptische Teil in mir einfach zu prägnant ausgeprägt. Stirnrunzelnd mustere ich die übergroße, bauchige Flasche. Begutachte das Etikett. Nie von dem Ort gehört“, sage ich daraufhin. Liegt der in England?“
Amerika. An der Küste von Massachusetts. Glaube ich.“ Meinem acht Jahre älteren Bruder fällt es schwer, sachlich zu bleiben. Vor Begeisterung droht er förmlich aus allen Nähten zu platzen. Kann ich verstehen. Alex hat einen Großteil seiner 36 Lebensjahre unter unerklärlichem Haarausfall gelitten. Gelitten! Es ist keine Übertreibung. Man hänselte, schlug und beschimpfte ihn, weil er kein einziges Haar an seinem Körper besitzt. Vor ein paar Jahren wollte er sich sogar mal das Leben nehmen. Zum Glück wusste er nicht, wie man sich die Pulsadern richtig aufschlitzt. Heute lache ich darüber, aber damals? Es waren harte Zeiten. In der Therapie lernte er schließlich Anni kennen – und lieben. Sie akzeptiert ihn, wie er ist. So wie ich. Was unweigerlich zur nächsten Frage führt: Will ich Alex überhaupt mit Haaren sehen? Ich versuche mich an die Zeit vor dem Haarausfall zu erinnern. Keine Chance.
Aber … er ist glücklich. Hat Hoffnung. Nur das zählt.
Trotzdem …
„Ich will ja jetzt nicht den bösen Spielverderber geben“, ich spreche langsam, vorsichtig; taste mich voran wie ein Blinder in einer fremden Umgebung. „Aber an deiner Stelle würde ich nicht allzu sehr in überstürzte Euphorie verfallen. Ich meine … dieses Zeug stammt aus keiner Apotheke, besitzt keinerlei Nachweise, ebenso wenig eine Zusammensetzung …“
„100 Prozent Natur!“, schmettert mir Alex entgegen. „So stand es auf der Vertriebsseite!“
Ich seufze. „Das ist der andere Punkt, der mir Kopfzerbrechen bereitet“, gestehe ich. „Du hast dieses … Wunderelixier übers Internet gekauft. Via einer äußerst obskuren Seite, wie du gestehen musst. Hast du eine Garantie, dass sich es sich dabei nicht um das Werk einiger äußerst gewiefter Scharlatane handelt? Das du möglicherweise einer kriminellen Machenschaft auf den Leim gegangen bist?“
„Und was ist damit?“, kontert Alex und fährt sich abermals über den dunklen Flaum. „Sieht das für dich nach Scharlatanerie aus?“ Seine Züge verdüstern sich.
„Weißt du, was ich glaube? Das du mir mein Glück nicht gönnen willst. Warst doch schon immer neidisch auf mich. Weil ich trotz meiner Krankheit mehr erreicht habe, als du es jemals in deinem ganzen erbärmlichen Leben wirst! Ich war in deinem Alter bereits Professor h. c., während du noch immer auf der Stelle trittst! Sogar bei den Frauen war ich erfolgreicher. Und glaube bloß nicht, dass mir deine eindeutigen Blicke gen Anni nicht entgangen sind.“
Mir fehlen die Worte. So aggressiv kenne ich meinen Bruder gar nicht. Was ist bloß in ihn gefahren?
Es ist dieses Zeug, wispert eine Stimme in meinem Verstand.
„Keine Ahnung, warum ich mich noch immer mit dir abgebe; Bruder hin, Bruder her. Du bist Ballast, Abschaum. Du ziehst mich runter.“
Bewusst übertrieben knalle ich die Flasche auf den Tisch. „Ist das eine Aufforderung, zu gehen?“
„Immerhin – dass hast du verstanden.“
Ich kann nur mit dem Kopf schütteln. Vor mir steht ein anderer Mensch. Eine Person, der ich gleichzeitig das Grinsen aus dem Gesicht schlagen möchte, die aber andererseits noch immer mein großer Bruder ist – oder so was in der Art.
Also mache ich mich auf den Weg.
„Kannst ja rüber in die Staaten fliegen und Detektiv spielen!“, ruft mir Alex nach, bevor ich die Haustür überlaut zuschlage.
Tja, und ebendies habe ich nun getan. Ich blinzle die unschönen Erinnerungen hinfort; verscheuche sie wie eine lästige Fliege, in der Hoffnung, sie mögen von mir ablassen. Doch wird dies nie der Fall sein. Die Schrecken haben sich wie Brandzeichen in meinen Verstand geätzt. Gutes wurde von Schlimmem abgelöst. In mir steigt Hass auf. Drängend wie Dampf in einem Kessel. Schreiend hebe ich einen faustgroßen Stein auf und schmettere ihn gen Teich. Brackige Flüssigkeit spritzt in alle Richtungen, dem die aufgebrachten Kröten folgen. Mit Genugtuung beobachte ich ihre überstürzte Flucht.
Bis ich dieses tiefe, sonore, über alle Maßen garstige Quaken vernehme. Ich erstarre. Bodenloses Entsetzen schnürt mir die Kehle zu. Dieses Quaken … es stammt von keiner Kröte. Kröten quaken nicht. Aber auch kein gewöhnlicher Frosch ist imstande, solch einen durch und durch hasserfüllten, feindseligen Laut von sich zu geben. Meine Hand zittert, als ich sie sehr langsam, sehr bedacht zum Rücken führe. Dorthin, wo der Revolver versteckt ist, der sich wie ein tödliches Versprechen gegen meine Haut presst. Längst stehen meine Nerven kurz vorm Zerreißen. Ich verspüre jenes eigenartige Gefühl des Beobachtetwerdens. Zeig dich. Zeig dich, du missgestaltete Kreatur. Damit ich dir eine Kugel zwischen die Augen jagen kann – oder zumindest ein paar Rätsel aus dir rausquetsche.
Nichts geschieht. Ganz in der Nähe rascheln Blätter. Einmal, zweimal. Dann – wieder Stille. Von den Kröten fehlt jegliche Spur. Ich sollte mich wieder auf den Weg machen.
Es dauert eine ganze Weile, bevor ich den schweren Umhang der Paranoia zumindest ein bisschen abstreifen kann. Die Angst, die Ungewissheit bleiben. Ich bewege mich auf einem sehr schmalen Grad, der in mehr als einer Hinsicht fatal enden kann. Doch Rückzug?
Immer wieder finde ich den Pulloverkragen, der sich gegen meinen Hals zwängt wie das raue Henkersseil um die Kehle des Verurteilten. Das Jucken wird stärker. Nicht lange, bis es mich in den Wahnsinn treiben wird – und vielleicht darüber hinaus …
Noch mehr Felder. Leer, abgeerntet. Weit und breit keine Hinweise auf Mensch, Tier oder sonstige Wesen. Die Sonne kommt heraus und gestattet mir kurzzeitig so etwas wie Entspannung. Passend dazu beschreibt die Straße eine leichte Neigung, die mir sehr entgegenkommt. Im Grunde fehlt mir nur noch ein knorriger Wanderstock zur Vervollkommnung der „fröhlicher Wanderer-“Type. Leider ist dieses Intermezzo nur von sehr kurzer Dauer. Je näher ich dem Tal komme, desto drängender kehrt die Furcht zurück. Wie ein Hagelsturm aus heiterem Himmel prasselt es auf mich ein. Tief. Sonor. Garstig. Dann sehe ich es – und alles verschwimmt. Heiße Tränen machen aus der Umgebung Farbkleckse. Ich schließe die Augen, doch wartet anstelle von Erlösung abermals der Blick in die schreckliche Vergangenheit.
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