Auffällig ist, dass ich in dieser Zeit fast keinen Besuch mehr bekomme. Nachdem sich die Leute wochenlang die Klinke in die Hand gegeben haben, ist es jetzt wie abgeschnitten. Meine Eltern kommen nach wie vor täglich. Beate ist mit einem sehr schlechten Gewissen für drei Wochen nach Australien geflogen. Ich habe ihr zugeraten, dies zu tun, sie braucht einfach Urlaub! Inga ist inzwischen wieder zurück in Neuseeland, Wiebke ist für einige Zeit im Skiurlaub, und Gabi ist mit ihrer Diplomarbeit beschäftigt. Somit komme ich wieder zum Lesen.
An einem Sonntagmorgen besuchen mich Gudrun und Anne, was sehr schön ist! Auch Laura und Christine kommen ab und zu vorbei.
11.02.2011 , an Petra vom Chor:
Übrigens, zum Geburtstag habe ich von meinen Eltern und Beate ein (gebrauchtes) E-Klavier bekommen! Ist das nicht der Hammer? Ich habe mich total gefreut, habe doch schon lange damit geliebäugelt. Gibst Du eigentlich auch Klavierunterricht? Ich werde wohl noch viel Zeit haben, Klavier zu spielen, da ich noch ein Jahr nach der Transplantation nicht arbeiten darf. Seufz! Na jedenfalls würde ich gern bei Dir Unterricht nehmen, wenn Du so etwas machst. Wenn alles plangemäß läuft, habe ich die stationären Klinikaufenthalte Mitte April hinter mir. Oh Mann, und im Herbst können wir hoffentlich auch das Thema Band mal wieder in Angriff nehmen. Naja, mal schauen...vielleicht plane ich auch gerade zuviel.
Ja, natürlich mache ich auch Pläne für die Zeit „danach“. Obwohl, als meine Eltern und Beate mir das Klavier schenkten, kam mir schon der Gedanke, ob sich das noch lohnt bzw. ob ich das jemals nutzen werde. Was passiert mit dem Ding, wenn ich es nicht schaffe? Ich denke auch daran, dass meine Familie dann wohl meine Wohnung ausräumen und auflösen muss. Trauriger Gedanke.
13.02.2011:
Hallo Gabi, vorhin um viertel nach acht dachte ich; „Mann, sonntags zu Hause würde ich mich nochmals umdrehen und hier bin ich um diese Zeit schon geduscht, habe gefrühstückt und gucke „Dance Academy", was es immer sonntags früh gibt.
Es ist schon lustig, dass der Tag hier wirklich ganz anders abläuft als zu Hause. Ich sehe zu völlig anderen Zeiten fern, was soll man hier sonntags am Morgen ansonsten auch machen?
14.02.2011:
Hallo Angela, letzte Woche hatte ich schon eine Mail an Dich angefangen, aber mir ging’s nicht so gut, und ich bin wieder davon abgekommen. Die Chemo letzte Woche war kurz aber heftig. Ich konnte tagelang überhaupt nichts essen und hatte darüber hinaus Fieber. Aber das ist Gott sei Dank vorbei, ich kann auch wieder essen. Wenn das Essen hier doch mal besser schmecken würde...aber meine Eltern haben mir heute Nudelauflauf und Obst mitgebracht. Momentan wird ein Spender näher getestet, der zu 90% geeignet ist. Der Arzt hat mir heute gerade erzählt, dass das fehlende Merkmal (es gibt zehn) eins der nicht wichtigen ist. Aber die Feinabstimmung muss stimmen, und ich hoffe, es passt, auch terminlich, damit ich hier nicht noch eine Runde drehen muss. Hilfe. Erstmal freue ich mich auf den nächsten Urlaub bei meinen Eltern. Wie sieht´s bei Euch aus? Bestimmt viel Arbeit. Ich wünsch Dir wirklich, dass meine Vertretung schnell lernt und bald selbstständiger arbeiten kann! Ich liege jetzt in einem Doppelzimmer, allerdings bin ich zurzeit allein, mal schauen, wie lange das so bleibt. Ich hatte bis Freitag eine nette Nachbarin, aber allein ist es doch besser. Was Besuch angeht, so ist es gerade wie abgeschnitten. Meine Schwester ist in Australien, Inga wieder zu Hause, Wiebke im Urlaub...naja, das waren immer die Menschen, die mich am häufigsten besucht haben. Im Moment stört´s mich nicht, ich komme jetzt auch mal zum Lesen, außerdem schlafe ich auch viel.
Und dann steckt plötzlich Herr Jost den Kopf in die Tür und verkündet: „Es sind zwei hundertprozentige Spender identifiziert!“ „Wirklich“, frage ich ungläubig, und er nickt und erklärt mir, dass diese jetzt weiter untersucht werden müssen, damit festgestellt werden kann, ob sie als Spender auch wirklich geeignet sind. Was für eine gute Nachricht! Irgendwie habe ich gerade das Gefühl, dass sich jetzt doch alles zusammenfügt.
15.02.2011:
Und Petra hat gerade auf meine Mail geantwortet. Ich kann bei ihr Klavierunterricht nehmen, toll, oder??? Mal sehen, wie es nach dem Mildred-Scheel-Haus so ist, wie ich mich fühle und so. Aber dann mache ich das. Ich hoffe, meiner Lieblingsschwester geht´s gut am anderen Ende der Erde! Du fehlst mir hier schon...irgendwie ist der Besuch wie abgeschnitten, keiner hat mehr richtig Zeit! Dafür kannst Du natürlich nichts.
Nein, Beate kann nichts dafür, und auch sonst niemand. Die Diagnose Leukämie im November war für mich und viele andere Leute ein Schock. Jetzt ist der Schock scheinbar abgeebbt. Die Leute wenden sich nach über drei Monaten wieder ihrem Alltag zu. Das ist wohl der normale Gang der Dinge.
15.02.2011:
Liebe Inga, nur ganz kurz, die nächsten Tage mehr: Heute ging´s mir nicht besonders, da ich letzte Nacht wieder Fieber hatte. Das schlaucht so! Ich musste dann heute wieder zum Röntgen und war ansonsten zu nichts in der Lage. Vorhin rief ich einen Freund meines Vaters an, der heute 88 wird. Er sagte: „Ach Gaby, Du arme Maus..." und ich fühlte mich auch gleich so! Ich hatte fast einen Durchhänger, las dann in der Brigitte über Bianca Scholz (die Frau, die damals überfallen wurde und seitdem im Rollstuhl sitzt) und ich versuchte mir klarzumachen, dass ich wirklich die Chance habe, komplett gesund zu werden. Das ist viel wert! Liebe Grüße, Gaby
16.02.2011:
Boah Ulrike, was für eine Megamail! Da kann ich nicht mithalten, obwohl ich definitiv mehr Zeit habe als Du. Ferienhof in der Nähe von Schleswig klingt gut, wie heißt denn der Ort genau? Ich war da auch mal zum Seminar, der Ort hatte einen ganz ulkigen Namen, und dort gab es super leckeres Essen, es war köstlich. Leider war ich dort nur einmal zum Seminar. Das mit dem Buch von Jan-Josef Liefers ist ja ein guter Tipp. Das werde ich mir von einer Freundin wünschen. Sie hatte mir zum Geburtstag ein Buch von Nick Hornby geschenkt. Ich liebe die Bücher von ihm und habe fast alle und so auch dieses. „Juliet, Naked" heißt es, echt skurril...naja, Nick Hornby hat wirklich einen ganz besonderen Humor. „High fidelity" hat mir aber am besten gefallen, da habe ich mich auf jeder Seite schlapp gelacht. Gestern war ich beim Röntgen, und das ist immer eine Gelegenheit, Tina zu sehen, die an der Anmeldung arbeitet. Die Schwester sagte ihr Bescheid und sie kam, und wir schnackten eine ganze Weile, was total nett war! Ich muss, da ich gerade im „Zelltief" bin, immer eine Alien-Maske (so nenne ich sie) aufsetzen, wenn ich die Station verlasse. Das sieht aus!!! Ich hatte auch keine Lust, meine Perücke aufzusetzen, weil die Maske den Haaren sicher schaden würde. Also hatte ich ein Tuch um und diese Alien-Maske...ein Traum. Und dann sagte diese nette Röntgen-Schwester, dass ich so schöne große Augen hätte. Das hat noch keiner gesagt! Außerdem meinte sie, sie hätte schon die letzten Male gedacht, dass ich ein interessanter Typ Frau sei. „Danke", sagte ich inbrünstig, denn das konnte ich gerade echt gut gebrauchen. …
Was das Klavierspielen angeht, so habe ich Petra gefragt, ob sie mir Unterricht geben würde, und sie hat zugestimmt! Es wird noch eine Weile dauern, aber ich brauche ein paar Aufgaben, wenn ich wieder fit bin, sonst drehe ich wohl durch... Und ich denke mir, es ist doch gut, wenn ich die Zeit sinnvoll nutze. Ich habe mir auch schon überlegt, nach der Entlassung aus dem Mildred-Scheel-Haus ein Tagebuch zu führen und wirklich jeden Tag zu schreiben, was so passiert. Vielleicht kann man daraus ein Buch machen. Ich wollte das schon lange, wusste aber nie, worüber ich schreiben will. Und ich kann am besten über Sachen schreiben, die ich selbst erlebt habe. So, liebe Ulrike, nun ist dies doch eine längere Mail geworden. Ich werde jetzt Zähneputzen gehen. Meine künstliche Nahrung, die ich momentan bekomme, läuft schon durch die Vene. Ich kann eigentlich schon wieder ganz gut essen. Aber der Oberarzt ist der Meinung, ich muss unbedingt was für mein Gewicht tun, gerade im Hinblick auf die Transplantation. Liebe Grüße, Gaby
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