Bernd Struck und Niels Behrendt kennen sich schon seit mehr als vierzig Jahren. Die beiden norddeutsch wortkargen Polizisten wuchsen im gleichen Stadtteil auf und besuchten auch bis zum Umstieg auf das Gymnasium die gleichen Schulen. Behrendt bewarb sich mit einem ganz anständigen Abitur erfolgreich bei der Polizei, als Struck mit seinem glänzenden Fachabitur die technische und elektrotechnische Fakultät besuchte. Behrendt gab seinem ehemaligen Spiel- und Spaßkameraden den Tipp, dass das LKA die Spurensicherung und die Kriminaltechnik vehement erweitert, es würde aber an Fachleuten mangeln. Struck absolvierte das Bewerbungsverfahren neugierig mit der Freude am Wettbewerb. Seine Beobachtungsgabe und das besondere Talent sich alles exakt anscheinend unbegrenzt merken zu können, brachten ihn im Prüfungsverfahren weit nach vorne. Zu guter Letzt musste er einfach nur entscheiden, ob er diese Laufbahn einschlagen will. Er wollte. Denn hier wurden sein Wissen und sein Talent benötigt, zeitgleich gab es viel zu entwickeln und aufzubauen. In der freien Wirtschaft war ein Vorankommen weniger gesichert. Behrendt ist ein „Bulle“ der alten Schule. Mittlere Laufbahn, vom Revier-Einzeldienst bis zum KDD, zwischendurch Lehrgänge. Durch seine zielorientierten und erfolgreichen Jobs in Projekten und Sonderermittlungen kam er zum LKA. Kumpel Struck war da schon Gruppenleiter der Spurensicherung und half durch sein Wissen auch innerhalb der KTU immer wieder mal aus. Aber die reine Labor- und Untersuchungsarbeit wäre ihm zu eintönig gewesen, ihn faszinierte die Arbeit vor Ort. Struck und Behrendt verstanden sich schon früher ohne viele Worte und ihr Mix aus verschiedenen Erfahrungen und Talenten führte sie oft zum Erfolg. „Ich steige am AK Wandsbek aus, konferieren können die anderen. Ich muss mit den Eheleuten Johannsen reden“, bestimmt Behrendt nach einer halben Zigarettenlänge.
11:00 Uhr. ER sitzt noch unbeweglich auf der Bank. Nur der Rabe macht einen kleinen Ausflug zum Gebäude des Krankenhauses. Mit einer plumpen Bewegung landet der schwarze Vogel auf den verchromten Metallröhren des kleinen Fenstergeländer am Krankenzimmer von Friederike-Liselotte Johannsen. Seine Augen starren hinein und mit einem niedergeschlagenen Blick schaut Frieder Johannsen zum Fenster, das sich wie eine Balkontür öffnen ließe. Doch der Balkon davor wurde wohl vergessen oder eingespart. Er schaut auf den düsteren Gesellen, der ihn direkt ansieht. „Was willst du? Mich holen? Meine Frau oder uns beide? Du tust uns einen Gefallen damit“, seufzt der erschöpfte, einst so dynamische Hanseat. Unerwartet schaut ER von der Bank zum entfernt liegenden Fenster hinauf und seine Gedanken flüstern: „Habt ein wenig Geduld, es soll geschehen, alles wird sich ändern.“

Niels Behrendt hat das Zimmer der Johannsens erreicht und ist unbemerkt hineingekommen. Die bewusstlose und an Kanülen angeschlossene Frau im Bett gibt dem Ermittler zu denken, Vernehmung also unmöglich. „Herr Johannsen, Entschuldigung, aber ich müsste dringend mit ihnen reden. Mein Name ist Behrendt, Niels Behrendt vom LKA Hamburg.“ Frieder Johannsens Worte hatte er vorher noch gehört und seinem Blick folgend auch den Raben am Fenster entdeckt. Als ob sich das Tier ertappt fühlt, flattert es hektisch davon. Niels Behrendt kann ein kurzes, beklemmendes Gefühl nicht unterdrücken. „Herr Johannsen…“, doch der regt sich nicht, schaut wie gebannt aus dem Fenster, wo eben noch der große schwarze Vogel saß. Ein sanftes Vibrieren mit einem kurzen Piepen signalisiert den Eingang einer SMS, die Behrendt mit drei Klicks an seinem Handy öffnet. Die SMS von Struck war schnell gelesen: „Nichts Neues, nichts was du wissen musst oder nicht schon weißt, Gruß BS.“
Erst nach der dritten Ansprache reagierte der 68-jährige. „Ja, gut, ich verstehe. Gehen wir nach draußen, reden wir.“ Ein paar Flügelschläge weiter landet der Kolkrabe wieder bei IHM auf der Bank. Das Buch liegt nun zugeschlagen unter seiner großen rechten Hand, in die Linke pickt der Vogel, als ob er auf sich aufmerksam machen will.
„Christoph, komm jetzt sofort hierher!“, ruft Ulrike Gebhardt ihren Sohn, „Christoph!“, ihre Stimme klingt nun schon ein wenig hysterisch, während sich die 32jährige suchend am Waldrand der Jüthornstraße umsieht. Nur einen kleinen Moment hat sie auf den Vierjährigen nicht geachtet und jetzt ist er nicht mehr zu sehen. Hinter der großen Kastanie nähert sich der Junge neugierig dem seltsamen Mann mit dem großen Vogel. Vorsichtig setzt Jan einen kleinen Schritt vor den anderen. Der Rabe blickt ihm direkt in die Augen. „Wer bist du?“, fragt er den Mann, „ist das dein Vogel?“ Nun schaut auch ER von seinem Buch auf, langsam, wie in Zeitlupe fixiert ER den kleinen Burschen vor ihm. „Oh, wie fein, oh, oh, wir haben Besuch“, summt er mit einer sonoren Stimme, „Raberus, willst du dich nicht vorstellen?“, fordert er den Vogel auf, der unbeweglich auf seiner Hand sitzen bleibt und weiterhin den Jungen anstarrt. Nun hält Raberus kurz den Kopf schief, als wolle er lauschen oder eine andere Perspektive ausprobieren. Dann folgt plötzlich ein schrilles Krächzen und der Rabe breitet seine Flügel aus. Vor Schreck lässt Christoph seine kleine blaue Plastikschaufel fallen und läuft schnell zurück. „Du sollst nicht alleine durch die Gegend laufen!“, fährt ihn seine Mutter an, die fest seine kleine Hand ergreift. Sich wieder sicher fühlend blickt Christoph noch einmal über seine Schulter zurück zur Kastanie. Der Mann und der Rabe haben ihn nicht aus den Augen gelassen. „Da ist ein Mann mit einem großen schwarzen Vogel, wollte nur mal gucken“, erklärt Christoph. Ulrike Gebhardt schaut ebenfalls hinter sich und sieht den großen Mann mit dem Hut auf der Bank von der Seite. Irgendwie wirkt er unheimlich für sie. „Bleibe weg von solchen Leuten“, sagt Ulrike, während ihr aus unerklärlichen Gründen ein Schauer über den Rücken läuft. „Oh, oh, fein, fein, wie interessant, wie eindrucksvoll“, summt ER, „es wird sich alles ändern, so auch für Euch, doch noch nicht sofort.“ Nun widmet ER sich wieder dem Buch der Bücher. Raberus flattert kurz auf und bringt ihm die kleine blaue Kinderschaufel. Ohne hinzuschauen berührt ER die Schaufel und nickt kaum wahrnehmbar sanftmütig mit dem Kopf.
15:00 Uhr. An die Tatorte in der Speicherstadt erinnern am Nachmittag nur noch Absperrbänder. Aber immer noch sind viele Beamte unterwegs. Jeder wusste, dies ist was Besonderes, keine Routine, kein Kneipentotschläger oder der Mord aus Eifersucht, kein Raub, kein Überfall, keine Sexualtat. Niemand quengelt wegen der anfallenden Überstunden. Die Hunde waren vor einigen Stunden abgezogen worden. Ein guter Spürhund kann nur 2 bis 3 Stunden eingesetzt werden, dann ist die Konzentration aufgebraucht und der Spielbetrieb vorerst ausgelebt.
Niels Behrendt erfährt von Frieder-Ludwig-Peerfried Johannsen viel über das Leben von Roswitha-Liselotte und über die Johannsens. Doch zum Tatablauf am gestrigen Abend erhält Niels keine neuen Informationen. Er ahnt nach diesem intensiven Gespräch, das er auch von Friederike-Liselotte Johannsen nicht mehr erfahren wird, wenn sie wieder ansprechbar ist. Bevor er sich den kritischen Fragen seines Dezernatsleiters stellt, fährt Behrendt nach dem Gespräch mit der U-Bahn zu den Landungsbrücken. An einem Imbiss versucht er seinen Appetit mit einer Bockwurst zu wecken. Doch das glückt nicht, die angebissene Wurst landet mit dem Brötchen im Müll. Zum Becher Kaffee zündet er sich nachdenklich eine Zigarette an und lässt die vor ihm liegende Speicherstadt mit Blick von der Promenade auf sich wirken. Die Wege und Brücken sind wieder freigegeben, das späte Nachmittagslicht kündigt den Abend an. Im Hintergrund seines Verstands, der sich mit den Puzzle-Teilen des spärlichen Wissens beschäftigt, arbeitet auch Niels Behrendts Instinkt auf Hochtouren. Es kommt aber kein Resultat zustande. Niels drückt den Glimmstängel aus und macht sich auf den Weg ins Präsidium.
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