»Beruhige dich, Darling, es ist kaum anzunehmen, dass die Erreger der furchtbaren Krankheiten die Jahrhunderte überlebt haben.«
Als sie unter wucherndem Gestrüpp später das Schild „reparto psichiatrica“ entdeckten, nickte Philip wie zur Bestätigung.
»Es hat also damals tatsächlich eine psychiatrische Abteilung gegeben«, sagte er, »demnach ist es nicht nur eine Legende.«
»Die Gebäude sollen doch als Alters- und Siechenheime gedient haben, wenn ich richtig unterrichtet bin, da finde ich es ganz normal, wenn es auch eine psychiatrische Abteilung gab«, meinte Charlene mehr zu ihrer eigenen Beruhigung, »oder glaubst du die Geschichte über diesen Dr. Frankenstein, der mit Patienten experimentiert haben soll?«
»Nein, eher nicht. Ich denke, diese Horrorstorys haben die Amis erfunden.«
Ganz plötzlich bezog sich der Himmel, und innerhalb weniger Minuten kam dichter Nebel auf. Aber damit nicht genug. Es wurde so kalt, dass der ausgestoßene Atem wie eine Rauchfahne wirkte. Charlene drückte sich fröstelnd an Philip.
»Was ist jetzt wieder los? Das ist doch nicht normal, dass auf einmal winterliche Temperaturen herrschen«, sagte sie kläglich, doch weitere Kommentare blieben ihr förmlich im Halse stecken. Denn aus dem Nebel kamen ihnen Gestalten mit zerlumpter Kleidung entgegen. Sie waren schrecklich entstellt durch schwarze Male im Gesicht und an den Händen, die sie wie Krallen nach ihnen ausstreckten. Aus ihren Mündern rann eine schwärzliche Masse, und ihre Augen blickten tot und gebrochen.
Charlene und Philip suchten ihr Heil in der Flucht. Und offensichtlich hatten sie Glück und wurden nicht verfolgt. Da trat ihnen eine alte Frau, krumm auf einen Stock gestützt, entgegen. Auch ihre Kleidung hing in Fetzen an ihr herunter, und sie stank fürchterlich. Aber sie verzog ihren zahnlosen Mund zu einem freundlichen Lächeln.
»Kommt, meine Kinder, ich bringe euch in Sicherheit«, lallte sie. Und vor Aufregung wunderten sich Philip und Charlene nicht einmal, dass sie Englisch sprach. »Ihr müsst dort nach links. Da führen ein paar Stufen zum Wasser hinunter, und ihr werdet ein Boot finden, das euch fortbringt.«
Kurz ein »Danke« murmelnd, gingen die beiden in die angegebene Richtung. Die Alte hatte nicht gelogen. Als Philip und Charlene die Stufen hinuntereilten, sahen sie tatsächlich ein etwas morsches Boot auf dem Wasser schaukeln. Und zwei Ruder gab es auch.
»Sollten wir nicht die anderen holen?«, fragte Charlene unsicher.
»Bis wir die gefunden haben, ist das Boot vielleicht wieder weg. Wenn wir es bis zum Lido-Ufer schaffen, können wir immer noch Hilfe holen.«
»Und wenn nicht?«
»Darüber will ich mir jetzt keine Gedanken machen. Es ist vielleicht unsere einzige Chance. Komm, Darling, aber sei vorsichtig!«
Philip half seiner Frau in das Boot, das zwar etwas schaukelte, aber stabil zu sein schien. Doch das war ein Trugschluss. Von einem Moment zum anderen gab der Boden unter Charlenes Füßen nach, sodass sie langsam im dunklen Wasser versank. Philip sprang ohne zu zögern hinterher, doch er bekam seine Frau nicht zu fassen. Sie entglitt stets wie ein Aal seinen Händen. Da spürte er, wie seine Beine gepackt wurden und man ihn in die Tiefe zog. Philip strampelte in Todesangst, doch obwohl er niemanden unter ihm sah, konnte er den Angreifer nicht abschütteln. Dann begannen seine Lungen zu brennen, und er bekam keine Luft mehr. Das Letzte, was er sah, war Charlene, die mit vor Schreck weit geöffneten Augen leblos in Richtung Grund gezogen wurde.
Rebecca Miller stand am Fenster der alten Wohnung und schaute auf das dunkle Wasser des Kanals. Sie konnte es nicht begreifen, dass ihr Bruder Joshua sich nicht bei ihr meldete. Selbst wenn er es sich kurzfristig anders überlegt hatte und sich lieber in New York ein paar schöne Tage machen wollte, wäre es seine Pflicht gewesen, sie nicht länger im Unklaren zu lassen.
Man sagte ihnen beiden ein schwieriges Wesen nach, und zur Unterstützung dieser Einschätzung führte man gerne die Tatsache an, dass beide noch immer nicht verheiratet waren, obwohl sie mit großen Schritten auf die Vierzig zugingen. Rebecca wurde dann immer böse, wenn man sie darauf ansprach. Schließlich lebten sie in einer Zeit, wo die meisten Leute Singles waren. Ja, sie hatte einige Beziehungen hinter sich, glückliche und unglückliche, aber keine hatte gereicht, den Bund fürs Leben einzugehen, wie es so schön hieß. Rebecca mochte auch keine Menschen, die sich ausschließlich über ihre Partner definierten. Schließlich war sie eine eigenständige Person.
Joshua liebte seine Freiheit. Er ging nur oberflächliche Beziehungen ein, die meist nicht lange hielten. Sein Sport und seine Reiselust nahmen den Großteil seiner Freizeit ein. Und eine Frau zu finden, die ihn auf Dauer faszinierte, konnte er sich einfach nicht vorstellen, wie er schon mehrmals Rebecca gegenüber geäußert hatte. Es gab immer wieder welche, die versuchten, ihn einzufangen. Schließlich sah Joshua mit seiner durchtrainierten Figur und der sonnengebräunten Haut sehr gut aus, aber wenn es ernst wurde, zog er immer die Notbremse. Er sei eben kein Mann zum Heiraten, war einer seiner Lieblingssprüche.
Rebecca war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, beobachtet zu werden. Erst im letzten Moment fiel ihr auf, dass auf der anderen Seite des Kanals ein Mann unbeweglich herüberstarrte. Aber das war doch Joshua! Rebecca hätte jeden Eid geschworen. Er trug kein Gepäck bei sich und sah in der schummrigen Beleuchtung etwas weniger frisch als üblicherweise aus, fast elend. Nur warum kam er nicht zu ihr hinauf, sondern starrte nur unentwegt?
In aller Eile warf sich Rebecca einen dünnen Mantel über, zog ihre bequemen Sneakers an und verließ die Wohnung. Auf der Straße lief sie zum Kanal, aber wie schon befürchtet, gab es keine Spur mehr von Joshua. Etwas weiter entfernt bog zwar ein Mann gerade in die Seitenstraße, aber auf Rebeccas Rufen reagierte er nicht.
Vor Enttäuschung kamen Rebecca die Tränen, doch sie gab noch nicht auf. Voller Ungeduld umrundete sie den langgestreckten Häuserblock in der entgegengesetzten Richtung, erreichte schließlich die Calle del Caffettier und überquerte die schmale Brücke, die mehr einer leicht ansteigenden Treppe glich, um laut rufend, Joshua nachzueilen. In der Nähe des Ristorante Al Theatro stieß sie so heftig mit einem Mann zusammen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor.
Leider war es nicht Joshua, sondern ein lächelnder Fremder mit männlich markantem Gesicht und leicht angegrauten Schläfen, der sie am Arm festhielt, um sie am Stürzen zu hindern.
»Da hat es aber jemand ganz besonders eilig«, sagte er mit angenehmem Timbre in seiner Stimme. »Laufen Sie vor jemandem davon oder ihm nach?«
»Wie? Letzteres. Ich glaubte meinen Bruder zu sehen, der seit Tagen überfällig ist.«
»Wenn Sie weiter wollen, will ich Sie nicht aufhalten.«
»Danke, aber ich fürchte, Josh dürfte inzwischen über alle Berge sein.«
»Was machen wir denn nun mit Ihnen? Darf ich Sie nach Hause begleiten?«
»Ein Kavalier der alten Schule, was? Entschuldigen Sie! Ich bin es gewohnt, meine Wege ohne Begleitung zu erledigen.«
»Schade. Darf ich mich übrigens vorstellen? Mein Name ist Fabrizio Vespucci.«
»Ein Nachfahre des Seefahrers, Entdeckers und Kaufmanns?«
»Nein, leider nicht. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«
»Angenehm, ich heiße Rebecca Miller.«
»Ebenfalls angenehm, sehr sogar.«
»Als Nachfahre, oder auch Nichtnachfahre, des großen Eroberers halten Sie es wohl für Ihre Pflicht, mit fremden Frauen zu flirten?«
»Nur wenn sie so attraktiv wie Sie sind.«
»Es gibt jüngere und hübschere …«
»Mag sein, aber selten so schlagfertige. Nun Rebecca hat zwar der Bibel nach einem Knecht Wasser aus ihrem Krug gereicht und auch seinen Kamelen zu trinken gegeben, aber vielleicht können wir es heute umgekehrt machen? Ich würde Sie gerne zu einem Glas Wein einladen. Ein Kamel oder Pferd, das getränkt werden müsste, habe ich allerdings nicht dabei.«
Читать дальше