Bald herrschten chaosartige Zustände in der Stadt. Verantwortlich dafür war die nicht enden wollende Anzahl der Toten. Der Gemüsehändler Rinuccio Salviati war kurz nach seinem Sohn Iacopo erkrankt. Als beide schnell verstarben, wollte Barbera Salviati, die zu ihrer Schwester geflohen war, wie viele Angehörige bei der Beerdigung von Mann und Sohn anwesend sein. Das wurde ihr auch nicht verwehrt, aber voller Entsetzen sollte sie feststellen, dass sie auf der Insel der Toten bleiben musste, um die noch Gesunden zu schützen. Damit lieferte man sie dem sicheren Pesttod aus. Geradeso, als wäre sie in dem Haus des Todes verblieben. Die konsequente Seuchenpolitik betraf auch die Totengräber, zum Zwangsdienst auf den Inseln verpflichtet, und die Führer der Barken, die die Toten auf die Inseln übersetzten. Denn die meisten von ihnen wurden ebenfalls Opfer der Pest.
Andere, meist mittellose Venezianer, die, wie vor der Epidemie üblich, ihre Verstorbenen vor die Haustür legten, damit Wohltätigkeitsvereine sie bestatteten, wurden streng verfolgt und bestraft. Als Zeichen der verschärften Gesetze erfolgten immer mehr Schließungen von Schenken und Tavernen, selbst am Rialto. Die Bezirke Cannaregio, Santa Croce und Dorsoduro wirkten wie verwaist.
Im Juni war der Große Rat nicht mehr beschlussfähig, weil viele Mitglieder verstorben oder geflüchtet waren. Nur der Senat blieb arbeitsfähig und verschärfte weiterhin die Gesetze. So durfte die Stadt nicht mehr von Fremden betreten werden. Schiffseignern untersagte man, Passagiere zu befördern, ebenso den Gondolieri, Personen von auswärts auf den Kanälen überzusetzen. Der Alltag war künftig von Beerdigungen geprägt und den Trauernden mit ihrer dunklen Kleidung. Bis der Senat untersagte, Trauerkleidung zu tragen, um keine allgemeine depressive Stimmung aufkommen zu lassen. Kleider in Schwarz, Dunkelblau und Dunkelgrün war Frauen über fünfzig und den Armen vorbehalten.
Aus rätselhaften Gründen flaute die Pest im Spätsommer 1348 plötzlich wieder ab. Womöglich seien die Überlebenden gegen den Erreger immun geworden, vermutete man. Dennoch war Venedig weitgehend entvölkert, und es gab kaum noch Wirtschaft, da man mehr Mittel ausgegeben als eingenommen hatte.
Rebecca war mit einem der Boote der Linea Blu zurückgefahren und hatte nach einer Stunde und zwanzig Minuten den Hauptkai Riva degli Schiavoni am Piazza San Marco erreicht. Von dort aus waren es kaum mehr als fünf Gehminuten bis zur Calle di Cristo, in der die Wohnung lag, die ihr Vater seinerzeit gekauft hatte. Ursprünglich hatte er sie mindestens einmal jährlich nutzen wollen, doch das blieb nicht mehr als ein Traum, weil Simon Miller, bedingt durch seine lange, schwere Krankheit, sich die Reise kaum zumuten konnte. Nach seinem Tod war die Wohnung an seine Kinder Rebecca und Joshua vererbt worden, da Esther keinen Wert darauf legte.
Die luxuriös anmutende Wohnung mit ihren drei Zimmern, einem Bad, den über vier Meter hohen Decken, Terrazzo- und Parkettböden, verzierten Holzbalken an den Decken und Blick auf den Kanal und das Theater La Fenice, in dem 1851 Verdis Rigoletto uraufgeführt wurde, befand sich in einem Palazzo aus dem 16. Jahrhundert und war viel zu schade, als reine Ferienwohnung genutzt zu werden. Obwohl sie in unmittelbarer Nähe von den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt wie Rialto, San Marco und der Accademia lag und für Liebhaber der venezianischen Kunst und Kultur mehr als geeignet war. Rebecca konnte noch nicht sagen, ob sie oder ihr Bruder dort dauerhaft wohnen wollten. Zu Joshua mit seinem zum Teil exzentrischen Geschmack und zu Rebeccas edler Erscheinung hätte es auf jeden Fall gepasst. Zunächst wollte sie das alte Venedig erforschen. Vor allem das berühmte Ghetto, in dem ihre Großeltern einst gelebt hatten, bis sie Anfang der vierziger Jahre vor den Nazis hatten fliehen müssen.
1575
Amadeo Riario, ein hübscher junger Bursche aus einfachen Verhältnissen mit sonnengebräuntem Teint und schwarzen, lockigen Haaren, hatte es gut getroffen mit seiner Stellung bei dem reichen Doffo Malvezzi, der sein Vermögen mit dem Handel von Gold und Juwelen gemacht hatte. Wie viele Venezianer jener Zeit besaß Malvezzi eine eigene Gondel, die Amadeo steuern durfte. Den ganzen Tag bis zum späten Abend ließen sich Doffo, seine Frau Bartolomea und vor allem deren gemeinsamer Sohn Ottaviano durch die engen Kanäle der Serenissima – die allerdurchlauchteste der Städte – rudern.
Die Familie Malvezzi kleidete sich standesgemäß nach der neuesten Mode und zugleich typisch venezianisch. Doffo trug die schwarze, bodenlange Toga der Männer mit ausladenden Ärmeln, die sackartig bis zu einem halben Meter herabfielen. Diese Ärmelmode wurde in Venedig “a comeo“ genannt und war nicht nur vorgeschrieben, sondern wies den Träger als zugehörig zum Adel oder höherem Bürgertum aus. Der Stoff war aus kostbarer Seide und mitunter mit feinem Marder- oder Eichhörnchenfell verziert. Hatten die Frauen am Anfang des Jahrhunderts noch weit ausladende Dekolletés und enge Perlenketten getragen, so waren die Kleider inzwischen sehr viel üppiger und weniger figurbetont. Weil der Körper der Frau eher versteckt werden sollte, hielt sich auch Bartolomea daran und zeigte nur ihr leicht hochmütiges Gesicht, ihren weißen Schwanenhals und die zarten, makellosen Hände.
Damit der Luxus bei beiden Geschlechtern nicht ausuferte, unterhielt der “Magistrato alle pompe“ eigene Beamte, die “Provveditori sopra le pompe“. Da die Regeln regelmäßig missachtet wurden, gab es zur Kontrolle sogar Kleider-Razzien in den Häusern der reichen Bürger; Sklaven, die Zuwiderhandlungen ihrer Herrschaften anzeigten, wurde zur Belohnung die Freiheit geschenkt.
Besonders die junge Generation schlug gelegentlich über die Stränge. Bunt bestickte Ärmel mit Fransen und Stickereien aus Gold und Silber versuchte man mithilfe von Gesetzen zu verhindern. Man sprach von den “neuen, hässlichen und würdelosen Kleidern“. Junge Venezianer, auch “Togato“ genannt, lebten hemmungslos ihr Modebewusstsein aus. Dazu gehörten die “Calze“, enge Hosen, die eher wie Strumpfhosen aussahen, und “Zuponi“, üppig bestickte kurze Jacken. Ottaviano trug dazu ein weißes, gebauschtes Hemd, einen Gürtel um die Taille und die sogenannte “Bareta“, eine ovale Kappe. Amadeos Zuponi war aus einfachem, rostrotem Stoff und gänzlich unbestickt. Auch er trug enge Beinkleider, aber darüber eine bauschige kurze Hose mit Rautenmuster, und seine Kappe zierte eine weiße Feder, wie es bei den anderen Gondolieri üblich war.
Ottaviano, dessen Gesichtsausdruck kaum weniger hochmütig als der seiner Mutter war, liebte es, ein Bad in der Menge zu nehmen. Vornehmlich in den ärmeren Wohngebieten, denn dort boten gewöhnliche Frauenzimmer ihre Dienste an. Und Ottavianos Hang zum Vulgären war unübersehbar. Dass genau diese Leidenschaft ihn das Leben kosten sollte, ahnte er freilich nicht. Irgendwann war er auf eine Schneiderei am Rio Marin im Stadtteil Santa Croce am westlichen Ende des Canal Grande gestoßen. Die Gassen der Armen, voller Schmutz und Unrat, beherbergten Fischer, Handwerker, Hilfsarbeiter, Abfallsammler, Totengräber, Brunnenreiniger, aber auch Huren und Bettler. Doch vor allem prägten in den schäbigen Mietshäusern und Spelunken Ratten das Bild. Sodass man durchaus von einer Plage reden konnte.
Die Kunden von Matteo Varrani, dem begabten Schneider, in dessen Werkstatt Schneidertische, Scheren, Spinnräder und Stoffballen von seiner Arbeit zeugten, störte das wenig. Er war flink und äußerst geschickt und achtete peinlich auf die zu verwendende Stoffmenge, die nach der Kleiderordnung gesetzlich limitiert war. Schon deshalb, um einem drohenden Bußgeld zu entgehen. Ottaviano schätzte Matteos fehlerlose Arbeit und kam deshalb immer wieder.
Amadeo hingegen verfolgte ganz andere Motive, die sein Herz regelmäßig höher schlagen ließen. Matteo hatte nämlich eine bildhübsche Tochter namens Alfonsina, die dem Gondoliere schüchterne Blicke zuwarf und damit auf mehr als Gegenliebe stieß. Amadeo konnte sich nicht sattsehen, wie Alfonsina mit feinen Nadeln den Stoff zusammennähte und dabei stets ein fröhliches Lied auf den Lippen hatte. Ihre zarte Figur war in ein weißes, in der Mitte zusammengerafftes, Gewand gehüllt, das die Knospen ihrer Brüste erahnen ließ und im Sitzen ihre wohlgeformten Beine enthüllte.
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