Doch warum sollten wir überhaupt irgendetwas glauben? Oder auf etwas vertrauen? Oder uns führen lassen? Wer führt uns da grade? Du siehst, ich bin eine Frau. Ich bin eine Eva. Und die waren immer schon so.
Natürlich ist auch dir längst klar, wer die Lulus sind: Unsere Vorfahren. Seit dem Sündenfall hatten Menschen allen Grund, sich vor diesem GOTT zu fürchten und das hat sich in unserer genetischen Erinnerung so eingeprägt, dass wir, wenn wir GOTT und seinem Gefolge heute persönlich begegneten, sofort wüssten, das ist nicht Gott, das ist etwas ganz anderes. Daher gab es nur immer ganz wenige, die ihn zu Gesicht bekamen. Er benutzte dann lieber einen brennenden Dornbusch oder eine Lichtsäule. Oder schickte menschenähnliche Engel vorbei.
Vermutlich bist du nun versucht, dich über meine Verschwörungstheorie aufzuregen. Das solltest du auch, das erwartet man von dir. Du sollst mir nicht glauben. Du sollst möglichst mit nichts in Berührung kommen, das dich befreien könnte. Doch mal ehrlich: Warum solltest du überhaupt glauben? Oder dich führen lassen? Wer führt dich da grade? Oder wirst du eher verführt?
Nach einer sehr langen Pause wandte ich mich wieder an meinen Drachen, denn meine Neugier siegte über den Schock: "Erzähl mir mehr über Drachen!" Du siehst also, ich bin eine typische Frau. Ich bin eine Eva und die waren immer schon so.
"Vor langer Zeit lebten die Drachen auf einem Planeten irgendwo in dieser Galaxis. Sie waren von großer Statur, wesentlich größer als Menschen, und gingen aufrecht. Sie waren intelligent und konnten auch fühlen. Sie lebten in einer großen, hierarchisch aufgebauten Gesellschaftsform, in der Familienclans den Ton angaben. An der Spitze ihrer Gesellschaft herrschte ein einziger Drache und gab seine Macht immer innerhalb seiner eigenen Familie weiter. Man könnte die Staatsform also mit Fug und Recht als eine absolute Monarchie bezeichnen.
In ihrem Naturell waren alle Drachen ganz besonders interessiert an Ritualen und Numerologie, jedoch so richtig besessen waren sie von ihrer genetischen Erblinie, und die war ihnen so kostbar, dass sie alles daransetzten, sie möglichst unverfälscht und rein weiterzugeben. Inzest gehörte daher ganz selbstverständlich zu ihrem Leben. Man sah ihn als sinnvolle Bereicherung der genetischen Struktur dieser Erblinien an.
Natürlich ahmten auch bedeutende und weniger bedeutende Drachen in den untergeordneten Rängen dieses Gebaren nach. Alle waren im gesellschaftlichen Verkehr, vor allem jedoch beim Erzeugen von Nachwuchs, immer darauf bedacht, standesgemäß zu handeln und sich möglichst in der Hierarchie nach oben zu entwickeln. Unstandesgemäße Verbindungen, die dann auch noch Nachwuchs erzeugten, kamen zwar ständig vor, aber der Nachwuchs wurde niemals legitimiert und sank in der Hierarchie als Bastard meistens noch tiefer nach unten als der nachrangige Elternteil.
Allerdings gab es da Ausnahmen. Manchmal zeigten sich nach Generationen von Bastarden in der genetisch verwässerten Linie wieder völlig reinrassige Merkmale in einem einzigen Individuum. Dieses erhielte Macht und Position in der Hierarchie und stieg die gesellschaftliche Leiter sogar von ganz unten sehr schnell hinauf. Doch es musste sich auch gegen alle Intrigen durchsetzen können, die einem Emporkömmling so entgegenschlugen. Das war die Aufnahmeprüfung."
"Dieses Machtgebaren erscheint uns Menschen völlig unverständlich und fremd!" warf ich ein. Denn schon die Grundrechte, auf die wir uns international geeinigt haben, sagen, dass alle Menschen gleich und frei sind. Und dass deshalb natürlich auch unsere Genetik für unsere Karriere und Partnerwahl keinen Unterschied machen sollte. Chancengleichheit gilt für alle Hautfarben und auch für alle anderen Unterscheidungsmerkmale in einer Gesellschaft. "Es will mir nicht in den Kopf, warum die Drachen so besessen von ihrer Genetik waren!" sagte ich.
"Bei Drachen war die Genetik ganz anders," fuhr mein Drache fort. "Drachen besaßen ganz unterschiedliche Merkmale. Die einen hatten große Hörner, die anderen kleine. Sie hatten ein Riesengeweih oder nur ein paar Spitzen. Sie hatten einen, zwei, drei oder keine Dornen an der Schwanzspitze, um den Schwanz als Waffe zu benutzen. Sie hatten scharfe Zacken auf ihrem Rücken oder auch nur sanfte Hubbel. Auch die Farben von Zacken und Körper spielten eine Rolle. Die Farbe ihrer reptilienartigen Schuppen konnte je nach dem überwiegenden, typischen Temperament von giftgrün, stechendem Gelb, schmutzigem Blau oder aggressivem Rot bis hin zu braun, rosa, hellblau, hellgrün und sonnigem Gelb reichen. Letztere waren dann die sanfteren Genossen, die wurden verachtet und standen ganz unten in der Hackordnung. Dazu kam eine unterschiedliche Anzahl von Zehen bzw. Krallen.
Mit diesen körperlich wahrnehmbaren Unterscheidungsmerkmalen gingen mentale, emotionale und psychische Fähigkeiten einher, die du dir nicht einmal im Traum vorstellen kannst! Sie lagen wohl miteinander auf dem gleichen Chromosom. Sie hatten manchmal sogar drei Augen. Zwei so angeordnet wie bei Menschen und ein drittes Auge in der Mitte der Stirn. Dieses Auge war etwas ganz Besonders. Damit konnten sie andere Wesen mental scannen und ihre Stärke im Kampf einschätzen. In der Herrscherfamilie und nur da war die Kraft dieses dritten Auges so groß, dass es sein Gegenüber sofort töten konnte. Dieser Blick konnte töten! Wenn ein Drache aus der Herrscherdynastie sehr wütend wurde, tat er das immer, selbst aus Versehen. Genau diese vererbbare Fähigkeit hatte die Dynastie auch an die Spitze der Drachengesellschaft gebracht. Man durfte sie nämlich nicht wütend machen.
Und natürlich konnten auch noch fast alle anderen Drachen zumindest die Gase, die sich in ihrem Bauch angesammelt hatten, entzünden, während sie diese aus ihrem weit geöffneten Maul raus rülpsten. Doch auch beim Feuerspeien galt: Je größer der erzeugte Flammenstoß, für umso genialer wurde das Erbgut des Drachen angesehen.
Da alle diese Eigenschaften bei den Drachen rein genetisch bedingt waren und nur wenig mit Lernen, mit Erfahrung sammeln oder mit Wachsen und Gedeihen zu tun hatten, waren die Drachen auch nicht motiviert, sich zu entwickeln. Innerlich zu wachsen oder dazu zu lernen. Wozu? Es war doch schon vorherbestimmt, wo sie in der Gesellschaft stehen würden und was sie zu tun hatten. Wenn überhaupt, lernten sie alleine durch Nachahmung der entsprechenden gesellschaftlichen Positionen. Etikette war ganz wichtig.
"Das klingt ein wenig nach der Mentalität unserer Adeligen früher", sagte ich.
"Gar nicht so abwegig, gut mitgedacht," lobte mich mein Drache. "Auch bei den Drachen entschied allein das blaue Blut über den Rang und die Zukunft in der Gesellschaft. Sie nannten ihr blaues Blut natürlich nicht so, sie hatten ja ihre eigene Sprache, diese Bezeichnung gaben ihm erst Menschen, die einen Drachen bluten sahen. Denn in der Atmosphäre der Erde, die viel mehr Sauerstoff enthält als die Atmosphäre ihres eigenen Planeten, färbte sich ihr Blut sofort nach Austreten an der Luft etwas bläulich. Das lag an einem höheren Kupferanteil, der oxidierte."
Waren unsere Adligen etwa mit den Drachen verwandt? Plötzlich sah ich das ganze Gehabe unserer Adligen um Abstammung und blaues Blut in einem völlig neuen Licht. Mein Drache ignorierte diesen Gedanken jedoch und fuhr einfach fort:
"Je blauer das Blut, desto höher stand dieser Drache in der Rangordnung, und das war das Wichtigste überhaupt für einen Drachen: Die Rangordnung in der Hierarchie. Seinen Staat hatte der Imperator so gut durchorganisiert, dass jeder genau wusste, wo sein Platz in der Befehlskette war. Und jeder Einzelne musste seinen Stammbaum über die männliche Linie, soweit es ging, ehrbar zurückverfolgen können. Sonst kam er in den Verdacht, dass da zum Beispiel vor zehn Generationen ein Bastard dabei war.
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