Um dem Blick des anderen auszuweichen schaute Nathaniel auf seine Heuer Tag Armbanduhr und stellte fest, dass ihn noch knapp zwanzig Minuten von seinem Treffen mit Rebecca trennten. Doch der Anblick seines Gegenübers, der den Raum für Nathaniel noch einmal eingeschränkt hatte, ließ ihn nicht los. Verstohlen musterte er noch einmal das frustrierte, müde, desillusionierte Gesicht. Und jetzt stach es ihm direkt ins Auge, was er unterschwellig schon im ersten Moment gespürt hatte. Dieser Mann war furchtbar einsam. Er schien Erfolg in seinem Beruf zu haben, denn er verfügte über Geld, das sah man seiner Kleidung an. Und er hatte hervorragende Umgangsformen, ein Gentleman der alten Schule, das zeigte seine Haltung. Doch das alles war nur eine Maske hinter die dieser Mann kaum jemanden blicken ließ. Er spielte eine perfekte Rolle, und er spielte sie wirklich hervorragend, eiskalt und skrupellos. Aber in diesem Moment, in diesem Augenblick verließ ihn die Kraft die Maskerade noch weiter aufrecht zu erhalten. Nathaniel erhaschte einen tiefen Einblick in seine Seele und sah die abgrundtiefe Einsamkeit. Ist es das was am Ende bleibt …? Nathaniel fröstelte. Er sah in der Seitenscheibe sein eigenes Spiegelbild und die Angst in seinem Blick.
Sie erreichten den Halt Dortmund-Kley. Ihm blieben noch zehn Minuten. Die Worte die er sich gedanklich schon zurechtgelegt hatte, gerieten durcheinander. Die Türen öffneten sich und die junge Mutter mit dem Kinderwagen stieg aus. Es war wie eine Warnung. Lass sie nicht gehen! Beinahe wäre er aufgesprungen um sie aufzuhalten. Im letzten Moment erkannte er jedoch seinen Irrtum. Es war nicht Rebecca und noch hatte er sie nicht verloren. Die Türen der S-Bahn schlossen sich mit dem charakteristischen Zischen und kurz darauf fuhr der Zug weiter. Neun Minuten und dreißig Sekunden.
Der Halt Dortmund-Oespel zog einfach vorbei. Er merkte es gar nicht. Die S-Bahn fuhr weiter und brachte ihn mit jedem Meter seinem Ziel näher und der unausweichlichen Entscheidung. Unausweichlich, war sie das? Wer schrieb ihm denn vor, dass er sich so entscheiden musste, wie er sich entschlossen zu entscheiden hatte? War er nicht ein freier Mensch? Frei in seinen Entscheidungen, in der Wahl des Weges, den er einschlagen wollte? Konnte er mit den Konsequenzen leben?
Die S-Bahn erreichte den Tunnel der zum Halt Dortmund-Universität führte. Die moderne LED-Beleuchtung an den Tunnelwänden lähmten Nathaniels Geist. Er konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, starrte sein eigenes Spiegelbild in der dunklen Glasscheibe an, hinter der die Lichter der LED-Beleuchtung an ihm vorbeiblitzten. „Wenn ich in zwei, drei Jahren aufhöre, dann werde ich mit Sicherheit ihren Namen in meine Überlegungen wer mein Nachfolger sein soll mit einbeziehen“, echote die Stimme seines Vorgesetzten in seinen Ohren und wurde beinahe von den Geräuschen der S-Bahn übertönt. Als die S-Bahn ihr Tempo verringerte und die enge Tunnelröhre dem unterirdischen Bahnhof der Dortmunder Universität wich, und Nathaniel die wartenden Leute an sich vorbeiziehen sah, glaubte er für den Bruchteil einer Sekunde Rebeccas Gesicht zwischen den Wartenden erkannt zu haben.
Nathaniel erschrak. Es war als hätte ihm jemand eine Ohrfeige gegeben. Er sprang auf, riss die Tür zwischen der ersten und der zweiten Klasse auf und begann den Gang zwischen den Sitzreihen entlangzulaufen. Er musste wissen, ob er sie tatsächlich gesehen hatte, und ob Rebecca sich nun auch in der S-Bahn befand. Das wäre eine Katastrophe. Er wollte sie doch erst am Hauptbahnhof treffen. Jetzt, hier war er gar nicht darauf vorbereitet.
Und da stand sie, nichtsahnend; ließ ihr unglaubliches, befreiendes Lachen erklingen im Gespräch mit ihren Kommilitonen. Noch hatte sie ihn nicht bemerkt. Aber das konnte nur noch Sekunden dauern, weil Nathaniel kaum einen Meter von ihr entfernt mitten im Gang stand und sie anstarrte. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so geschämt. Wie konnte er diesem bezaubernden, Engel gleichem Wesen nur so etwas antun? Wie um alles in der Welt konnte er auf dem Gleis am Hauptbahnhof auf sie zugehen und ihr sagen, dass es vorbei war, dass er die Beziehung nicht weiterführen konnte, weil es seine Karriere störte?
Ihm traten Tränen in die Augen. Tränen der Wut, auf sich selbst. Konnte er wirklich so egoistisch sein? Warum hatte es überhaupt so weit kommen können? Wollte er wirklich seine Ideale verraten. Das Gesicht des alten, verbitterten Mannes erschien vor seinen geistigen Augen. Erfolg, wollte er ihn wirklich um solch einen Preis?
Rebecca wand ihren Kopf in seine Richtung sie hatte ihn bemerkt. Erstaunen huschte über ihr Gesicht, dann Freude ihn zu sehen. Sie sprang auf ihn zu, ihre Arme zu einer Umarmung auseinandergebreitet. Dann entdeckte sie seine Tränen. „Nathaniel, was ist?“
Er wischte alles fort. Strich die Entscheidung aus seinem Kopf. Ließ die Illusion von Erfolg und Macht, Ruhm und Reichtum einfach platzen. Dann schloss er sie in seine Arme und drückte sie so feste, wie noch nie in seinem Leben. Ein Lächeln huschte über seine Lippen und seine Augen strahlten sie an, als er fragte: „Willst du mich heiraten?“
Freitag, 05:40
Fünf Uhr vierzig. Mein Wagen steht wie jeden Morgen an derselben Stelle auf dem Parkplatz vor dem S-Bahn-Halt Essen-Steele-Ost. Doch diesen Morgen werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Es regnet in Strömen, das Autoradio läuft, ich habe die Augen geschlossen und lausche der Musik und den aktuellen Berichten. Erst in einer halben Stunde werde ich die S-Bahn nach Dortmund nehmen. So wie an jeden Morgen. Die Scheiben sind beschlagen und die Regentropfen trommeln auf das Autodach. Plötzlich klopft es gegen die Scheibe der Beifahrertür. Mein Puls schnellt in die Höhe, ich reiß die Augen auf und ich starre durch die vom Regen mit Tropfen benetzte Scheibe in das fahle Gesicht einer jungen Frau. Sie bedeutet mir das Fenster zu öffnen. Ein Druck auf den Schalter des elektrischen Fensterhebers lässt die Seitenscheibe ins Innere der Beifahrertür hinuntergleiten. “Darf ich einsteigen? Es ist kalt und ich bin schon ganz nass“, fragt sie ohne sich vorzustellen. Ich mustere sie misstrauisch. Ihre Haare, mittig knallrot und nach oben gegelt, an den Seiten pechschwarz, sind unbestritten klatsch nass. Sie zittert, und soweit ich das im Dunkeln erkennen kann, sind ihre Lippen vor Kälte schon ganz violett. Oder hat sie eine ausgefallene Vorliebe für schräge Lippenstiftfarben? “Bitte!“, verleiht sie mit bebender Stimme ihrer Frage eine Dringlichkeit, welcher ich mich nicht entziehen kann. Obwohl in meinen Kopf sämtliche Alarmglocken schrillen, betätige ich den Knopf für die Zentralverriegelung, die mit einem deutlichen Klack aufspringt. Sie öffnet die Beifahrertür und lässt sich dankbar auf den Sitz gleiten.
“Ich bin Marie“, stellt sie sich vor und streckt mir ihre feingliedrige, blasse Hand hin. Ihre Fingernägel sind genauso knallrot lackiert, wie ihre Haare gefärbt sind. Der Ärmel ihres schwarzen Strickpullovers reicht ihr bis an die oberen Fingerknöchel. “Und du?“ Mein Blick springt von ihrer Hand zu ihren braunen Augen. “Ich nicht“, antworte ich und bereue meinen billigen Scherz so gleich. Doch ein Lächeln huscht über ihre Lippen; tatsächlich violetter Lippenstift. Wer denkt sich den so etwas aus? “Nein“, lacht sie, “wie heißt Du?“ Joseph, schießt es mir durch den Kopf, doch das scheint mir dann doch zu viel des Guten. “Titus“, antworte ich. Sie sieht mich verblüfft an und verkneift sich ein Lachen. Im Autoradio läuft Sweet Sixteen von Billy Idol und ich versuche ihr Alter zu erraten. Runaway Child, singt Billy. Ist Marie auch eine Ausreißerin? “Meine S-Bahn fährt gleich“, sage ich und versuche meinen Blick von ihrer an beiden Knie aufgerissenen schwarzen Jeans zu lösen. “Nach Dortmund?“ - “Ja.“ - “Da will ich auch hin.“
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